Vorbeugung von Vergiftungen bei Kleinkindern

Interview mit Frau Dr. Christine Rauber-Lüthy

Hand der Mutter hält ein Kind zurück, das nach Tabletten greift,Kind greift nach Medikamenten am Boden
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swissmom: Kürzlich wurde der Jahresbericht 2004 des Schweizerischen Toxikologischen Informationszentrums, kurz TOX, publiziert. Wie gross ist die Anzahl der Vergiftungen bei Kindern? Welche Kinder sind am meisten gefährdet und warum?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: Im Jahr 2004 registrierte das TOX 12'356 Anfragen, nachdem Kinder einer giftigen oder vermeintlich giftigen Substanz ausgesetzt waren. Am meisten werden Dinge von Kleinkindern in den Mund gesteckt, aber es kommt unter anderem auch recht häufig zu Augenspritzern und Hautkontakten mit Giften. Gelegentlich werden wir auch auf Grund von ungewohnten Expositionswegen angerufen, zum Beispiel der Sekundenkleber, der mit den Ohrentropfen verwechselt wurde, oder die giftigen Beeren, die von einem Kleinen in die Nase gesteckt wurden. Zum Glück verlaufen die meisten Kindervergiftungen unproblematisch. Im Jahr 2004 verliefen nur 96 Fälle mittel oder schwer und wir hatten erfreulicherweise keinen tödlichen Verlauf bei Kindern zu verzeichnen. Kleinkinder müssen zuerst lernen zwischen Essbarem und Unbekömmlichem zu unterscheiden, deshalb sind 1- bis 3jährige besonders gefährdet. Eine zweite, wenn auch viel kleinere Risikogruppe stellen die 13-15jährigen dar. Auch in diesem Alter geht es wieder ums Entdecken, aber nun im Rahmen des Drogenmissbrauchs.

Zur Person

Frau Dr. Christine Rauber-Lüthy ist Oberärztin und Leiterin des Auskunftsdienstes des Schweizerischen Toxikologischen Informationszentrums der Schweiz (TOX).

swissmom: Die Sorge der Eltern ihre Kleinkinder zu schützen, ist gerade durch die Arbeit des TOX-Zentrums breit in das Bewusstsein der Bevölkerung geraten. Warum ist dennoch immer wieder wichtig, auf die Gefahren hinzuweisen?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: Man interessiert sich vor allem dann für solche Probleme, wenn sie ganz persönlich betreffen, also muss man insbesondere werdende Eltern immer wieder von Neuem auf die Entdeckungsfreudigkeit ihrer Kleinen und Gefahren, die damit verbunden sind, aufmerksam machen. Das Öllämpli auf dem Klubtisch ist hübsch, Medikamente, die man nicht vergessen darf, auf dem Nachttischchen sind praktisch. Beides ist erst dann gefährlich, wenn ein Kleinkind im Haushalt lebt.

swissmom: Eine grosse Anzahl der Vergiftungen bei Kleinkindern ist durch Medikamente verursacht. Welche Wirkstoffe sind da besonders gefährlich? Wie kann man die Kinder schützen, bzw. verhindern, dass solche Vergiftungen vorkommen?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: Zum Glück können nur wenige Medikamente schon in kleiner Menge, wie sie das Kleinkind typischerweise einnimmt, zu schweren Symptomen führen, dazu gehören unter anderem Antidepressiva (Medikamente gegen Depressionen), kampferhaltige Produkte, Herz/Kreislaufmedikamente und Opiate. Am wichtigsten ist, dass Medikamente konsequent weggeschlossen werden. Eltern sollen aber auch darauf achten, dass sie Medikamente nicht vor den Augen der Kleinkinder einnehmen, um eine Nachahmung zu vermeiden.

swissmom: Pflanzen bieten auch ein grosses Gefahrenpotential für Kinder. Was können Sie uns allgemein dazu berichten, welche Pflanzenteile sind am gefährlichsten?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: Kinder sind vor allem an den Beeren interessiert. Unter den hoch giftigen Pflanzen wie zum Beispiel Herbstzeitlose, Oleander und Eisenhut ist insbesondere die Tollkirsche, wegen ihren schönen schwarzen Beeren für Kinder verlockend. Auf unserer Homepage (www.toxinfo.ch) sind unter „Wussten Sie das? Vergiftungen durch Pflanzen“ die giftigen Pflanzen zusammengestellt. Es gibt keine allgemein gültige Regel, welche Pflanzenteile am giftigsten sind. Oft haben die Wurzeln den höchsten Giftgehalt, oder die Beeren. Aber zum Beispiel für die Eibe trifft dies nicht zu, bei dieser Pflanze ist alles hoch giftig ausser dem roten Fruchtmantel. Es gibt viele Pflanzen, deren Beeren zwar giftige Bestandteile enthalten, die aber, wenn ein paar wenige Beeren eingenommen werden, schlimmstenfalls Erbrechen oder Bauchschmerzen verursachen. Als Beispiel seien die Stechpalme, Cotoneasterarten oder die Heckenkirsche erwähnt.

swissmom: Welche Zimmerpflanzen sollten Eltern lieber nicht auf ihre Fensterbänke stellen?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: Auch eine Liste der giftigen Zimmerpflanzen findet man unter www.toxinfo.ch, z.B. Dieffenbachia, Alokasia und Ruhmesblume.

swissmom: Haben Eltern einen Gartensitzplatz oder einen Garten, was sollten sie dabei beachten?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: Beim Tox-Zentrum oder auf unserer Homepage gibt es eine Liste mit harmlosen Pflanzen. Bei einer Neubepflanzung sollen möglichst diese Pflanzen berücksichtigt werden. Leicht giftige Pflanzen müssen nicht zwingend vermieden werden. Diese können für Kleinkinder Übungsobjekte sein. Sicher sollen aber hoch giftige Pflanzen entfernt oder gar nicht erst angepflanzt werden.

swissmom: Haushaltsprodukte stellen neben den Medikamenten die zweitgrösste Gruppe dar, bei denen das TOX-Zentrum Fragen beantworten muss. Welche Vergiftungen sind da zu beobachten? Wie schwer sind die Verläufe?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: Die Giftigkeit von Haushaltprodukten ist sehr unterschiedlich. Sie beinhalten häufig Kohlenwasserstoffe, Detergentien (Seifen), Alkohol sowie Säuren und Laugen. Kohlenwasserstoffe sind unterschiedlich gefährliche Verbindungen (Beispiele im Haushalt: Fleckenreiniger, Treibstoff, Pinselreiniger, Möbelpolituren, Lampenöl, flüssige Schuhpflegemittel, Terpentinersatz). Allgemein kann schon die Einnahme von kleinen Mengen zu Übelkeit, Erbrechen und Bauchweh führen. Gewisse Kohlenwasserstoffe bergen zudem ein erhebliches Risiko einer chemischen Lungenentzündung, wenn sie in die Atemwege gelangen (Aspiration). Dies äussert sich mit Husten, Atemnot, später evtl. begleitet von Fieber. Seifenhaltige Produkte sind wenig gefährlich (Beispiele im Haushalt: Allzweckreiniger, Handgeschirrspülmittel, Flüssigseife). Sie können allenfalls zu einer Reizung der Schleimhaut des Magen-Darm-Traktes mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall führen. Als seltene Komplikation kann Schaum in die Lungen gelangen und dort ebenfalls zu einer Entzündung führen. Unter den Alkoholen, die in Haushalt- und gewerblichen Produkten verwendet werden, ist der Ethanol (Trink-Alkohol) am häufigsten, daneben kommen aber auch toxischere Alkohole wie Isopropanol, Methanol und Ethylenglykol vor (Beispiele: Putzsprit, Fensterreiniger, Frostschutzmittel und Enteiser). Die Toxizität ist bei allen von der eingenommenen Menge und von der Konzentration abhängig, die im Produkt vorliegt. Alle Alkohole können in einer Frühphase zu Angetriebenheit und Euphorie („Schwips“), später zu Benommenheit oder Bewusstlosigkeit führen. Als Begleitsymptome kommen Übelkeit und Erbrechen, eine Unterzuckerung und Gleichgewichtsstörungen in Frage. Methanol und Ethylenglykol können durch ihre gefährlichen Abbauprodukte, die im Körper entstehen, zusätzlich zu Organschädigungen wie Blindheit (Methanol) oder Nierenversagen (Ethylenglykol) führen. Säuren, Laugen und andere ätzende Substanzen wirken bei Einnahme, Haut- oder Augenkontakt und Einatmen je nach Konzentration, Stärke und Einwirkzeit reizend bis ätzend. Brennen, Rötung, Schwellung und Schmerzen sind die ersten Symptome je nach Ort der Exposition. Beispiele im Haushalt sind Putzessig, Javelwasser, Geschirrspülmittel für die Maschine, Bleichmittel, Entkalker, Rohrreiniger, Backofenreiniger.

swissmom: Welche Gefahren können Eltern bei der Einrichtung der Wohnung, v.a. des Kinderzimmers und beim Kauf von Spielsachen vermeiden?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: In Haushalten mit Kleinkindern soll darauf geachtet werden, dass alle Putzmittel in der Höhe (>160 cm) und für Kinder nicht sichtbar aufbewahrt werden. Medikamente gehören in einen abschliessbaren Apothekerschrank. Kinderspielzeuge, die in der Schweiz verkauft werden, dürfen keine giftigen Substanzen enthalten, hier besteht also keine Vergiftungsgefahr.

swissmom: Was gehört zur Verhütung von Vergiftungen in jeden Haushalt mit Kindern?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: Für den Fall, dass es trotz allen Sicherheitsvorkehrungen zur Einnahme eines giftigen Produktes kommt, sollten die Telefonnummern der Ambulanz, des Kinderarztes und des Tox-Zentrums in Telefonnähe aufbewahrt werden. Zudem sollte die Hausapotheke für den Notfall mit Aktivkohle (Kohlesirup für Kinder) und Entschäumer (z.B. Flatulex Tropfen) ausgerüstet sein. Aktivkohle adsorbiert rasch eine Vielzahl von Giften, d.h. sie bindet gelöste giftige Stoffe an sich, sodass diese vom Körper nicht mehr aufgenommen werden können. Entschäumer, z.B. als Tropfen oder Kautabletten, verhindern nach der Einnahme von Seifenprodukten eine Schaumbildung im Magen. Damit kann die Gefahr, dass der Schaum beim Erbrechen in die Lunge gelangt, was in seltenen Fällen zu einer Lungenentzündung führen kann, vermindert wird.

swissmom: Welche Massnahmen bei einer möglichen Vergiftung eines Kindes sollen Eltern treffen?

Frau Dr. Rauber-Lüthy: Bevor sie etwas tun, sollten sie das TOX-Zentrum anrufen (Tel. Nr. 145), da es kein allgemein gültiges Vorgehen für alle Vergiftungen gibt. Zum Beispiel ist es nach Einnahme von Säuren wichtig, dem Kind 1-2 dl Wasser zu verabreichen, hingegen sollte das Kind nach der Einnahme von seifenhaltigen Produkten nichts oder nur einen kleinen Schluck zu trinken bekommen. Wichtige Informationen für die Ärztin am Telefon sind der Produktename und die maximal eingenommene Menge, sowie Alter, Gewicht, Geschlecht des betroffenen Kindes und die Telefonnummer für einen allfälligen Rückruf.

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Letzte Aktualisierung: 10.06.2021, swissmom-Redaktion