Ich und die Hexe


Mein Sohn und ich hatten etwas Mühe mit der Umstellung zur Winterzeit. An besagtem Sonntag lümmelten wir lange im Schlafanzug rum, rafften uns nach dem Mittag endlich auf, gingen an einen schön sonnigen Waldrand und machten Feuer, erzählten uns allerlei, hielten nach Tieren Ausschau, spielten mit unserem Hund und assen gebratene Äpfel und Schoggikuchen.

Doch mir wurde zunehmend übel und auch Goja wirkte plötzlich schläfrig und wehleidig. So kehrten wir heim und ich tat, was ich sonst selten tue: Ich haute mich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Zu meiner Freude lief gerade eines meiner Lieblingsmärchen. „Hänsel und Gretel“. Ich liebe Märchen. Am meisten „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Und schon als Kind verbrachte ich in Vaters Wald Stunden in einem schäbigen Holzhaus, unserem so genannten „Häxehüsli“. Auch mit Goja war ich schon öfters dort, meine Brüder haben die Hütte neu aufgebaut. Doch die Hexe haben wir noch nie angetroffen.

Nun, mein Sohn legte sich zu mir aufs Sofa. Zunehmend fiebrig wie ich, war er gewillt, einfach still zu sein und dem Treiben im Fernseher zuzusehen. Ab und zu erklärte ich ihm etwas aus der Handlung, ansonsten lagen wir ruhig, aber fröstelnd da und warteten auf den Auftritt der Hexe in ihrem zauberhaften Lebkuchenhaus.

Erst trat sie in Gestalt einer lieben Grossmutter auf. Goja war fast ein wenig enttäuscht. Doch nachts verwandelte sie sich in eine Furcht erregend hässliche Hexe mit grosser Nase, dicker Warze auf dem Kinn und einer unmöglichen Struwelfrisur. Goja rückte etwas näher an mich ran, schaute und sagte plötzlich: „Mami, du hast auch so eine Frisur!“

Ich war empört! Schockiert! Beleidigt! Tastete nach Gojas Stirn, in der Hoffnung, er spreche im Fieberwahn. Nichts dergleichen, er war heiss, ja, das schon, aber noch bei Sinnen. Denn er wiederholte seine Beobachtung, führte aus: „Nein, Mami, die Hexe ist bös, du bist lieb und du siehst nicht wie eine Hexe aus, du bist keine Hexe. – Aber du hast dieselbe Frisur, dieselben Haare.“ Er hielt inne, griff in meine Haare: „Nein, deine sind mehr braun und blond, die Hexe hat schon etwas mehr graue Haare als du.“

Wehleidig kroch ich nach diesem Angriff auf meine eh schon angeschlagene Psyche (ich hasse Kälte und Grippe) früher als geplant ins Bett, es schien mir, dass sich die auftretende Erkrankung grad noch rascher ausbreitete.
Wie oft habe ich mich in letzter Zeit über meinen grauen Haaransatz geärgert. Wie oft war ich unschlüssig, was ich mit meinen Haaren anstellen könnte. Und nun dies!

Sobald Goja und ich unsere Grippe, die sich zunehmend über uns hermacht, überwunden haben, muss ich handeln. Nein, wir werden auch weiterhin Märchen ansehen. Märchen sind manchmal gruselig, aber sie haben immer ein Happyend und sind darum von mir aus gesehen auch für Kleine okay. Aber ich werde mich endlich wieder einmal beim Coiffeur anmelden!

Letzte Aktualisierung: 11.08.2016, VZ