Der Riese und das Kind

Grosser Mann, kleiner Junge
©
GettyImages

Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? Erinnern Sie sich daran, wie grenzenlos Ihre Fantasie damals war? Vielleicht ist sie es heute immer noch, das wäre schön. Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, immer wieder mal die Gelegenheit zu haben, die Welt mit Kinderaugen zu bestaunen. Denn was gibt es Faszinierenderes, als die uneingeschränkte Logik und Denkweise von Kindern, das Hinschauen, das Fabulieren – was nie und nimmer mit Lügen verwechselt werden darf. Lügen ist etwas anderes und hat nichts mit dem Spintisieren von Kindern zu tun.

Nun, neulich, da machten Goja, unser Hund Flexi und ich das, was wir fast am liebsten tun. Wir gingen raus, in den Wald, später hoch auf einen kleinen Hügel, dorthin, wo ein kleiner Bach die Strasse unterquert. Dort lässt es sich wunderbar spielen, klettern, planschen, dem Hund Stöcke werfen, Blumen pflücken. Alles Dinge halt, die wir drei mögen. Das Bächlein ist klein, dennoch wird es unter der Brücke durch in einem gewaltigen Blechrohr geführt – damit es, wenn es mal richtig regnet, nicht die kleine Betonbrücke unterspült.

Sie müssen wissen, dass das Napfgebiet wie ein gewaltiger Schwamm ist mit seinen Gräben und Krächen, dass immer und überall eine neue Quelle aus dem Boden sprudelt. Es ist aber auch so, dass das Napfgebiet zu den niederschlagreichsten Gegenden gehört. Und wenns hier mal blitzt und donnert und schüttet, kann manch ein harmloses Bächlein binnen Minuten zum reissenden und zerstörenden Fluss werden.

Nun gut, in dieser Idylle also waren wir, Goja und der Hund waren bereits nach wenigen Minuten klitschnass – ich dagegen sonnte mich an einem Bord voller Blumen. Auf einmal, da fragte mich Goja, was das denn sei, dort unter der Brücke. Ich antwortete logischerweise wie eine Erwachsene: „ Das ist eine grosse Wasserröhre.“ Ich war mir durchaus bewusst, dass diese Antwort nicht zu hundert Prozent korrekt war, liess es aber bewenden, weil ich mich da ja nicht wirklich auskenne mit solchen Dingen. Goja betrachtete das leicht gewellte, grosse Weissblechteil mit einem Durchmesser von knapp zwei Metern eingehend und setzte sogleich zur Korrektur an. „Nein, Mami, das ist keine Wasserröhre!“ Er überlegte eine Weile. „Weißt du, was das ist?“ Ich schüttelte gespannt den Kopf. „Das ist die Ravioli-Büchse eines Riesen!“, sagte das Kind und war auf einmal ganz aufgeregt. Flugs spann er die abenteuerlichste Geschichte zusammen über den unbekannten Riesen, der hier, in unserem lauschigen Wäldchen, hausen musste. Dass dieser Riese, genau wie Goja, wohl am liebsten tagaus tagein Ravioli isst, war für meinen Sohn keine Frage. Und dass der wuchtige Kerl aus seinen leeren Büchsen was Taugliches baut, ist sowieso klar.

Ja, manchmal wünschte ich mir, ich könnte die Welt so logisch und fantasievoll sehen und erklären wie es nur Kindern möglich ist! Das Leben wäre manchmal bestimmt einfacher.

Letzte Aktualisierung: 11.08.2016, VZ