Wachstumsstörungen bei Kindern

Interview mit Dr. med. Stefanie Graf zum Thema Wachstumsstörungen bei Kindern - Diagnose und Therapie.

Geschwister
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swissmom: Was unterscheidet ein Kind mit einer Wachstumsstörung von anderen Kindern?

Dr. med. Stefanie Graf: Eine Wachstumsstörung kann sich durch ein ungenügendes – oder umgekehrt auch durch ein zu schnelles - Längenwachstum im Kindes- oder Jugendalter zeigen. Im Vergleich zu den gleichaltrigen Kindern im Umfeld erscheint das betroffene Kind dann kleiner – oder grösser als die andern. Die Gründe für das äusserlich beobachtete auffällige Wachstum sind sehr vielfältig und es können sowohl harmlose wie aber auch behandlungsbedürftige Ursachen dahinterstecken. Wichtig ist aber zuerst einmal, dass ein auffälliger Wachstumsverlauf überhaupt erkannt wird. Denn je früher ein solches Wachstumsproblem erfasst wird, desto mehr Chancen und Zeit hat man, die entsprechende Behandlung, sofern dann nötig, einzuleiten.

swissmom: Können Eltern ein (zu geringes oder zu schnelles) auffälliges Wachstum bei ihrem Kind erkennen?

Dr. med. Stefanie Graf: Eine zu geringe Grösse kann bei einem Kind auch mal sehr früh schon bei Geburt auffallen – z.B. im Sinne einer SGA-Geburtlichkeit (small for gestational age). Dies bedeutet, dass ein Kind im Verhältnis zu seinem Geburtsalter zu klein und- / oder zu leicht auf die Welt kommt. Die meisten dieser Kinder (ca. 90%) holen ihren Wachstumsrückstand innerhalb der ersten Lebensjahre wieder auf. Wenn ein solches ehemals zu kleines oder untergewichtiges Kind dies aber nicht tut, ist eine Abklärung angezeigt und einige dieser «SGA-Kinder» qualifizieren sich dann unter Umständen beispielsweise für eine Therapie mit Wachstumshormon.

Ein Wachstumsproblem kann sich aber auch erst später, im Kindes- oder Jugendalter bemerkbar machen - z.B. wenn ein Kind mit seinem Wachstum plötzlich stagniert und von seinen (jüngeren) Geschwistern oder den gleichaltrigen Kindern grössenmässig überholt wird. Die Eltern berichten dann auch oft, dass das Kind seit längerer Zeit immer noch dieselbe Kleidergrösse trägt. Oft fällt die Grösse auch im Verwandten- oder Bekanntenkreis auf und es kommen entsprechende Fragen. Aber auch ein sehr schnelles bzw. plötzlich beschleunigtes Wachstum kann auffällig sein und sollte ggf. abgeklärt werden.

swissmom: Wo erhalten Eltern, die eine Wachstumsstörung bei Ihrem Kind vermuten, Hilfe?

Dr. med. Stefanie Graf: Der erste Ansprechpartner für Eltern ist der betreuende Kinderarzt oder der Hausarzt der Familie. Er kennt die Kinder meist schon seit Geburt und führt die wichtigen Vorsorgekontrollen durch. Im Rahmen der empfohlenen Routineuntersuchungen werden die Kinder auch regelmässig gemessen und gewogen und die erhobenen Daten auf einer sogenannten Perzentilenkurve (Wachstums- und Gewichtskurven) eingetragen. Es können so die Wachstumsdaten mit denen der gleichaltrigen Kinder verglichen werden. Zusätzlich wird der familiäre Zielbereich eingezeichnet. Das Kind sollte mit seiner Grösse zwischen der 3. und 97. Perzentile liegen, damit es im sogenannten «Normbereich» wächst. Je nach elterlichem Zielbereich kann ein Kind aber auch mal ober- oder unterhalb des Normbereiches wachsen, ohne dass dies eine «krankhafte» Bedeutung haben muss. Ein Kind kleiner Eltern «darf» beispielsweise eher im unteren oder knapp unterhalb des altersentsprechenden Perzentilenbereiches wachsen, wenn es sonst gesund ist.

Stagniert ein Kind mit seinem Wachstum oder wächst es plötzlich sehr schnell, wird dies auf der Perzentilenkurve sichtbar. Dies zeigt sich dann auf der Kurve als «Perzentilenwechsel» oder «Perzentilenknick». Das heisst, dass das Kind von seiner ursprünglichen «Bahn» auf der Wachstumskurve nach unten oder oben abweicht. Bis zum 2. Lebensjahr ist dies nicht ungewöhnlich, danach sollte das Kind aber kontinuierlich entlang seiner Perzentile im familiären Zielbereich wachsen. Es ist deshalb wichtig, dass nicht nur die aktuelle Grösse, sondern auch die Wachstumsgeschwindigkeit übers Jahr gemessen und beurteilt wird.

swissmom: Bei den Vorsorgeuntersuchungen beim Kinder- oder Hausarzt wird also das Wachstum des Kindes kontrolliert. Wann sind weitere Untersuchungen notwendig und welche gibt es, um eine Wachstumsstörung festzustellen?

Dr. med. Stefanie Graf: Wächst ein Kind also ausserhalb des Normbereiches (3.- 97. Perzentile auf der Wachstumskurve) oder wird ein abweichendes Wachstum (Perzentilenknick) beobachtet, muss man der Ursache genauer auf den Grund gehen. Es ist eine ausführliche Befragung zum aktuellen Gesundheitszustand des Kindes und zu seiner medizinischen Vorgeschichte nötig. Dann sollte das Kind körperlich genau untersucht werden. Ergänzend werden im Weiteren, je nach vermuteter Ursache, noch weitere Abklärungen durch den Kinderarzt veranlasst und eingeleitet oder das Kind wird direkt dem Spezialisten für Wachstumsprobleme (Kinderendokrinologe) zugewiesen. Oftmals gibt ein Handröntgenbild noch wichtige zusätzliche Informationen. Es lässt sich damit das sogenannte «Knochenalter» bestimmen. Das Knochenalter widerspiegelt das «biologische» Alter des Kindes und entspricht nicht immer dem chronologischen Alter. Es kann beispielsweise retardiert oder aber auch avanciert sein. Ab einem Alter von ca. 10 Jahren kann anhand des Handröntgenbildes auch eine ungefähre Endlängenprognose errechnet werden.

Zur weiteren Abklärung einer Wachstumsstörung ist dann meist zusätzlich auch noch eine Blutentnahme nötig, um mögliche zu Grunde liegende akute – oder chronische Krankheiten, Mangelzustände oder hormonelle Probleme auszuschliessen.

Zur Person

Dr. med. Stefanie Graf praktiziert als Kinderendokrinologin und -diabetologin zusammen mit Dr. med. Beatrice Kuhlmann in einer Privatpraxis (ENDONET - Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie Hormony, www.endonet.ch) in Basel. Sie ist spezialisiert auf die Behandlung von hormonellen Störungen und Diabetes bei Kindern und Jugendlichen. Zudem ist sie als Oberärztin am Inselspital Bern (medizinische Universitätskinderklinik) tätig.

swissmom: Was sind die häufigsten Ursachen einer Wachstumsstörung?

Dr. med. Stefanie Graf: Die Ursachen einer Wachstumsstörung sind sehr vielfältig. Je nach Lebensalter beeinflussen unterschiedliche Faktoren den Wachstumsverlauf. So spielt z.B. in den ersten Lebensjahren v.a. die Ernährung eine wichtige Rolle. Weiter wird die Wachstumsregulation aber auch massgeblich von Hormonen, wie dem Schilddrüsenhormon, dem Wachstumshormon und im Verlauf der Pubertät auch von den Sexualhormonen (Wachstumsspurt) mitgeprägt.

Viele der Kinder mit auffälligem Wachstum sind aufgrund einer konstitutionellen Verzögerung von Wachstum und Entwicklung vergleichsweise kleiner als die gleichaltrigen Kinder. Umgangssprachlich werden diese Kinder oft als «Spätzünder» bezeichnet und bedürfen keiner medizinischen Behandlung. Sie wachsen einfach langsamer und können aber ihren Rückstand bis zum Wachstumsabschluss aufholen.

Es muss aber trotzdem zuerst bei allen Kindern mit Wachstumsstörung eine Grunderkrankung als Ursache ausgeschlossen werden. Hierzu gehören z.B. chronische Erkrankungen wie Nierenleiden, Lungenprobleme (z.B. cystische Fibrose), oder Magen-Darm-Störungen mit Malabsorption (z.B. Zöliakie). Ebenso müssen hormonelle Probleme wie Schilddrüsenhormonstörungen oder ein Wachstumshormonmangel gesucht werden.

Seltener gibt es auch Chromosomenstörungen, kleinwuchsassoziierte Syndrome, Knochenerkrankungen oder gewisse Medikamente, die das Wachstum beeinträchtigen können.

Entscheidend beeinflusst wird die Endgrösse aber wie gesagt v.a. auch durch die familiäre Komponente, bzw. die Gene. Ein Kind kleiner Eltern wird also auch eher klein sein werden.

swissmom: Welche Ängste und Bedenken haben Eltern, wenn ihr Kind ein auffälliges Wachstum hat?

Dr. med. Stefanie Graf: Die Eltern machen sich oft Sorgen, dass die Kinder wegen ihrer Grösse im Alltag unter- oder überschätzt werden und so z.B. gemobbt oder benachteiligt werden. Zudem wird oft geäussert, dass sie «einfach nichts verpassen» möchten – bzw. ihrem Kind rechtzeitig eine Behandlung ermöglichen wollen, falls dies nötig und indiziert wäre.

swissmom: Wie werden Wachstumsstörungen bei Kindern behandelt?

Dr. med. Stefanie Graf: Dies hängt massgeblich von der Ursache der Wachstumsstörung ab. Ergeben die Abklärungen Hinweise auf eine vorliegende Grunderkrankung muss diese entsprechend behandelt werden. Je früher man die zugrundeliegende Problematik erkennt und behandelt, desto weniger wird der weitere Wachstumsverlauf dadurch beeinträchtig. Eine Zöliakie muss beispielsweise durch eine spezielle, glutenfreie Diät eingestellt werden. Ein Kind mit hormoneller Störung wie z.B. einem Schilddrüsenhormonmangel oder einem Wachstumshormonmangel braucht den Ersatz des fehlenden – oder ungenügend vorhandenen Hormones. Man kann ein Kind aber nicht grösser machen, als es seine Genetik vorsieht. Die Behandlung kann nur dazu beitragen, dass das Kind sein vorgegebenes Wachstumspotential auch vollständig ausschöpfen kann.

swissmom: Was geschieht, wenn eine Wachstumsstörung unbehandelt bleibt?

Dr. med. Stefanie Graf: Falls die Wachstumsstörung Folge einer unerkannten Grunderkrankung ist, kann diese, abgesehen von der Wachstumsproblematik, je nach Ursache noch weitere Folgeprobleme mit sich ziehen. Die Behandlung der ursächlichen Erkrankung steht deshalb immer im Vordergrund. Wird eine Wachstumsstörung nicht oder zu spät erkannt, kann das Kind sein Wachstumsdefizit vielleicht später nicht mehr aufholen.

swissmom: Wie lange werden Kinder mit zu geringem oder zu schnellem Wachstum behandelt?

Dr. med. Stefanie Graf: Der Wachstumsverlauf kann beeinflusst werden, solange die Wachstumsfugen der Knochen noch offen sind. So lange können die Kinder auch noch wachsen. Das Wachstum endet dann nach der Pubertät, bei Mädchen oder Knaben im Alter zwischen ca. 16-18 Jahren, mit dem Verschluss der Wachstumsfugen am Knochen. Bei Kindern mit partiellem Wachstumshormonmangel, die während der Wachstumsphase eine Wachstumshormontherapie benötigten, kann dann die Therapie oft abgesetzt werden. Die körpereigene, geringe Produktion reicht für das Erwachsenenalter dann meist gerade noch aus. Es gibt aber auch ausgeprägte Wachstumshormonmangel-Situationen, wo eine Therapie lebenslänglich nötig ist. Andere Störungen wie z.B. Zöliakie oder Schilddrüsenunterfunktion müssen auch im Erwachsenenalter weitergeführt werden.

Je früher also eine Wachstumsstörung erkannt und abgeklärt wird, desto bessere Chancen haben die betroffenen Kinder, ihr Wachstum wieder ganz auszugleichen.

Letzte Aktualisierung: 14.01.2020, BH