Gefühlsstarke Kinder: lebhafter, lauter, temperamentvoller

Wie Eltern ihr Kind dabei unterstützen können, weniger über die starken Gefühle zu stolpern.

Rothaariges Kind blickt herausfordernd in die Kamera
©
GettyImages

Manche Kinder bringen von Anfang an mehr Leben ins Haus - sowohl im guten wie auch im herausfordernden Sinne. Im englischen Sprachraum werden sie als "spirited children" bezeichnet; auf Deutsch ist von gefühlsstarken oder temperamentvollen Kindern die Rede. Was hat es mit diesen Bezeichnungen auf sich? 

Das Wichtigste in Kürze

  • Etwa 10 bis 20 Prozent aller Babys reagieren stark auf äussere Reize und haben Mühe, sich selber zu regulieren.
  • Die Reizempfindlichkeit bleibt im Kindesalter bestehen. Die Kinder sind oft sehr beharrlich, haben eine hohe Energie, einen grossen Durchhaltewillen und tun sich schwer mit Veränderungen.
  • "Gefühlsstärke" ist keine Diagnose; die Kinder brauchen keine Therapie, sondern liebevolle Begleitung.
  • Eltern können ihr Kind dabei unterstützen, besser mit seinem lebhaften Temperament umzugehen. Dadurch werden die heftigen Gefühlsausbrüche weniger.

Das Temperament als Bereicherung sehen


Lange Zeit hatten Kinder, die temperamentvoll, willensstark und sensibel sind, nicht den besten Ruf. Sie wurden als "starrköpfig", "anstrengend" und "schwierig" abgestempelt. Dass sich dies geändert hat, ist unter anderem der amerikanischen Erziehungswissenschafterin Mary Sheedy Kurcinka zu verdanken. Kinder, die ihrem Umfeld von allem Anfang an mehr abverlangen, bezeichnete sie als "spirited children". Als Mutter wusste sie nur zu gut, wie leicht das Gefühl des Versagens aufkommt, wenn das eigene Kind so viel lauter, energiegeladener und beharrlicher ist als andere. In Büchern, Workshops und Vorträgen macht sie betroffenen Eltern Mut, die Herausforderungen anzugehen und dem Kind dabei zu helfen, sein Potential zu entwickeln

Der Begriff "gefühlsstarke Kinder" stammt von der deutschen Autorin Nora Imlau. Sie stützt sich in ihren Büchern auf Sheedy Kurcinkas Definitionen und ermutigt Eltern dazu, ihre Kinder so anzunehmen, wie sie sind und neben den Schwierigkeiten auch die Bereicherungen zu sehen, die das besondere Temperament mit sich bringt.

Empfänglicher für äussere Reize


Diverse Studien haben gezeigt, dass etwa 10 bis 20 Prozent der Babys von Anfang an hoch reaktiv sind. Die Amygdala, der Bereich im Gehirn, der äussere Reize verarbeitet und körperliche Reaktionen auslöst, reagiert schneller und heftiger. Das Kind gerät sozusagen leichter in Alarmbereitschaft und somit häufiger in den Kampf- und Fluchtmodus. Dies äussert sich, indem es auf Neues mit Weinen, Zappeln, Überstrecken etc. reagiert. Die Herzfrequenz nimmt zu, der Atem geht schneller und der Blutdruck steigt. 

Basierend auf diesen Forschungsergebnissen erläutern die oben genannten Autorinnen, dass manche Kinder von Geburt aus stärker und sensibler auf äussere Reize reagieren und grössere Mühe haben, sich selber zu regulieren. Aufgrund ihres angeborenen Temperaments sind sie aber nicht nur leichter erregbar, sondern oft auch besonders durchhaltewillig und motorisch fit.

Dies fällt oft schon im Babyalter auf. So ist das Baby vielleicht sehr schnell überfordert, wenn es vielen verschiedenen Eindrücken ausgesetzt ist. Es weint lauter und ausdauernder als andere und kann sich auch mit Hilfe nur schwer beruhigen. Es hat Mühe, einen regelmässigen Schlafrhythmus zu entwickeln und seine Emotionen können schon früh äusserst wechselhaft und intensiv sein. Gefühlsstarke Kinder werden oft ähnlich beschrieben wie sogenannte "High Need Babys". 

Was sind die Merkmale von gefühlsstarken Kindern?


Bei temperamentvollen Kindern zeigen sich gemäss Mary Sheedy Kurcinka die folgenden Merkmale:

  • Intensität: Für diese Kinder gibt es keinen Mittelweg, bei ihnen ist alles intensiver als bei anderen. Sie verleihen sowohl ihrer Freude als auch ihrem Ärger unmissverständlich und lautstark Ausdruck und tun alles mit grosser Hingabe. 

  • Beharrlichkeit: Sie fokussieren sich voll und ganz auf eine Sache oder eine Idee, wenn sie erst mal Feuer gefangen haben. Sie davon abzubringen ist kaum möglich und jeder Versuch, es trotzdem zu tun, führt zu heftigen Diskussionen. 

  • Empfindlichkeit: Sie reagieren intensiv auf Sinneseindrücke wie grelles Licht, Geräusche und Gerüche. Ein Kleidungsstück, das sich auf der Haut unangenehm anfühlt, kann zu einem ernsthaften Problem werden. 

  • Ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit: Selbst kleinste Dinge können ihre gesamte Aufmerksamkeit fesseln, sodass sie oft vergessen, was sie eigentlich tun sollten. Gefühle anderer Menschen nehmen diese Kinder sehr deutlich wahr.

  • Mühe mit Veränderungen: Übergänge von einer Tätigkeit zur anderen und unangekündigte Planänderungen können diesen Kindern schwer zu schaffen machen. Meistens mögen sie keine Überraschungen. 

Neben diesen zentralen Merkmalen können noch weitere hinzukommen. Mary Sheedy Kurcinka bezeichnet diese als "Bonus-Merkmale", die im Alltag zusätzliche Herausforderungen mit sich bringen:

  • Fehlende Regelmässigkeit: Feste Essenszeiten oder einen ausgeglichen Schlafrhythmus gibt es für diese Kinder nicht. Soll trotzdem so etwas wie Routine im Alltag einkehren, müssen die Eltern mit klaren Strukturen dafür sorgen. Diese aufrechtzuerhalten, kann jedoch aufgrund des ausgeprägten Freiheitsdrangs schwierig sein. 

  • Hohe Energie: Einige Kinder fallen durch einen sehr zielstrebigen Bewegungsdrang auf. Wollen sie etwas erreichen, erklettern sie jedes Hindernis. Wollen sie etwas fertigstellen, bleiben sie so lange dran, bis sie wirklich fertig sind - auch wenn sie schon längst zu müde wären. 

  • Mühe, sich auf Neues einzulassen: Auf alles Unbekannte reagieren diese Kinder erst mal mit einem deutlichen "Nein!". Nur durch längeres Beobachten und schrittweises Heranführen lassen sie sich davon überzeugen, es doch mal zu probieren. 

  • Analytisches und ernsthaftes Wesen: Mit einem Erfolg geben sich diese Kinder kaum zufrieden. Lieber erklären sie, was sie besser hätten machen können. Sie wollen jeder Sache auf den Grund gehen und weisen auf Fehler hin, die andere nicht mal bemerken würden.

Gefühlsstärke oder vielleicht doch mehr?


Obschon diese Beobachtungen durch Forschungsergebnisse untermauert sind, müssen Eltern sich bewusst sein: Gefühlsstärke ist keine Diagnose, die nach einer medizinischen oder psychologischen Abklärung gestellt werden kann. Betroffene Kinder müssen auch nicht therapiert werden, denn mit einer liebevollen Begleitung können sie lernen, nicht immer über ihr eigenes Temperament zu stolpern und stattdessen ihre Stärken zu entwickeln.

Dies zeigt auch, wann möglicherweise eine vertiefte Abklärung nötig ist: Wenn bei Ihrem Kind ein Leidensdruck entsteht, weil alle Strategien, die Sie mit ihm erarbeiten, nichts fruchten. Wenn es also z. B. trotz grosser Anstrengungen nicht in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was von ihm erwartet wird. Oder wenn sich sein Bewegungsdrang durch nichts bändigen lässt, egal, wie sehr es sich bemüht. Solche Schwierigkeiten können auf eine Störung hindeuten - müssen aber nicht. 

Wie das Erkennen von Gefühlsstärke Eltern entlastet


Eltern, die jeden Morgen mit dem bangen Gedanken erwachen, was heute wieder alles schieflaufen wird, stehen enorm unter Druck. Während in anderen Familien scheinbar alles reibungslos läuft, kommt es bei ihnen meistens schon vor dem Frühstück zur ersten Eskalation. Das Gefühl, alles falsch zu machen und regelmässig in den banalsten Situationen zu versagen, lässt sich mit der Zeit kaum mehr abschütteln. Die missbilligenden Blicke und die ungebetenen Ratschläge anderer Eltern sind schwer auszuhalten. 

Dass sie nicht einfach "schlechte" Eltern sind, sondern es tatsächlich mit einem besonderen Temperament ihres Kindes zu tun haben, ist eine grosse Entlastung. Endlich müssen sie sich nicht mehr hintersinnen, was sie alles "falsch" machen. Gelingt es den Eltern, das Kind anzunehmen, wie es ist, entspannt sich die Lage: Das Kind sieht sich nicht mehr mit Erwartungen konfrontiert, die es doch nicht erfüllen kann. Und die Eltern sind nicht eins ums andere Mal enttäuscht, weil die Dinge schon wieder anders gelaufen sind als erhofft. 

Wie umgehen mit dem lebhaften Temperament?


Mit dem Wissen, dass das Kind sich nicht mit Absicht querstellt, sind natürlich nicht alle Probleme auf einen Schlag gelöst. Schlechte Tage lassen sich dadurch jedoch leichter abhaken. Anstatt sich mit Selbstzweifeln aufzuhalten, können Sie sich damit befassen, wie Sie die zahlreichen Herausforderungen im Alltag friedlicher meistern können. Je nachdem, welche Merkmale bei Ihrem Kind ausgeprägter sind, werden Sie ganz unterschiedliche Herangehensweisen wählen. Einige Punkte sind jedoch in jedem Fall zentral:

Betrachten Sie Ihr Kind mit anderen Augen

Vermutlich fühlen Sie sich dem Temperament Ihres Kindes manchmal regelrecht ausgeliefert. Es kommt Ihnen vor, als würde es ganz gezielt die Knöpfe drücken, die Sie zum Explodieren bringen. Ihr Kind hat jedoch nicht das Ziel, Sie zu ärgern und Ihnen das Leben schwer zu machen. Hinter besonders anstrengenden Verhaltensweisen stecken oft kindliche Nöte: die Angst, den Anforderungen nicht zu genügen, die Überforderung durch allzu viele äussere Reize oder eine Ungerechtigkeit, die das Kind noch nicht verdaut hat. Dies zu verstehen, verhindert zwar den Konflikt nicht. Aber es hilft, sich durch das Verhalten des Kindes weniger provoziert zu fühlen.

Zuerst den Sturm stillen, dann reden

Mitten  im Gefühlsausbruch ist Ihr Kind zu aufgewühlt für Ermahnungen und Lösungsvorschläge. Und durch Herumbrüllen und laute Zurechtweisungen wird alles nur noch schlimmer. Ermöglichen Sie Ihrem Kind und sich selbst erst einmal, wieder herunterzukommen. Wenn Ruhe eingekehrt ist, können Sie mit Ihrem Kind besprechen, was passiert ist: Was hat es dermassen aus der Fassung gebracht? Was hätte ihm geholfen, das Problem zu lösen? Wie könnte man das beim nächsten Mal anders machen?
Falls Ihr Kind in der Wut Ihnen gegenüber ausfällig geworden ist, ist jetzt auch die Gelegenheit, ihm zu erklären, dass dieses Verhalten unangemessen und verletzend ist.

Häufige Auslöser erkennen

Gibt es inzwischen Situationen, die Sie regelrecht fürchten, weil sie immer und immer wieder vorkommen? Dann sollten Sie diese am dringendsten angehen, denn sie belasten das Familienleben am stärksten. Natürlich lässt sich nicht in jedem Fall ein eindeutiger Auslöser erkennen, doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich so manches: Das morgendliche Anziehen wird zum täglichen Kampf, weil Labels kratzen und sich Stoffe auf der Haut unangenehm anfühlen. Sie geraten immer dann aneinander, wenn das Kind ohne Vorbereitung von einer Aktivität zur anderen wechseln müsste. Oder jeder Wocheneinkauf wird zur Tortur, weil Ihr Kind durch die vielen Sinneseindrücke nach kurzer Zeit komplett fertig ist und die Kontrolle über seine Gefühle verliert. Sind solche möglichen Auslöser erkannt, können Sie ganz konkret nach Möglichkeiten suchen, wie Sie diese Situationen in Zukunft anders angehen können.

Herausfinden, was dem Kind guttut

Jedes Kind hat seinen eigenen Weg, wieder in einen ausgeglichenen Zustand zu kommen. Dem einen hilft es, ganz fest in den Arm genommen zu werden. Ein anderes kann in der Badewanne wieder herunterkommen. Einem dritten geht es viel besser, nachdem es sich körperlich so richtig verausgaben konnte. Und ein viertes möchte einfach mal eine Weile ganz alleine im Zimmer sein dürfen, um sich wieder zu sammeln. Haben Sie herausgefunden, was Ihrem Kind hilft, können Sie diese Tätigkeit im Konflikt anordnen. Nicht als Strafe, sondern als Angebot, sich zu beruhigen, bevor Sie Ihre Differenzen klären.

Gefühle benennen und darüber reden lernen

Bedürfnisse und Empfindungen mit Worten auszudrücken, ist für jedes Kind ein Lernprozess. Temperamentvolle Kinder brauchen dazu oft länger und das erschwert ihren Alltag enorm. Denn das Verständnis für einen Fünfjährigen, der sich wütend auf dem Fussboden wälzt, ist meist nicht besonders gross. Lehren Sie Ihr Kind, Gefühle zu benennen und zu umschreiben, was es empfindet. Je besser es sich mit Worten mitteilen kann, umso weniger muss es mit Gefühlsausbrüchen auf seine Bedürfnisse aufmerksam machen. 
Vielleicht finden Sie auch ein Sprachbild, mit dem das Kind beschreiben kann, wie sich die starken Empfindungen in seinem Körper anfühlen. Im "Ernstfall" können solche Bilder sehr hilfreich sein, um die Lage zu entschärfen: "Geht die Rakete in deinem Bauch jetzt gleich wieder los? Dann sofort ab in die Wanne!"

Machtkämpfe vermeiden

Ein willensstarkes Kind lässt sich kaum von Ihren Argumenten überzeugen, wenn es sich eine Sache in den Kopf gesetzt hat. Versuchen Sie es trotzdem, sind endlose Diskussionen und Machtkämpfe die Folge. Es sei denn, Sie gewöhnen sich an, Kompromisse zu finden: Was möchte das Kind? Was möchten die Eltern? Gibt es einen Zwischenweg, der am Ende beide zufriedenstellt?

Kein Freipass für Fehlverhalten


So wichtig es auch ist, die starken Gefühle Ihres Kindes ernst zu nehmen: Das Temperament darf nicht zur Ausrede für Fehlverhalten werden. Einfach gleichgültig mit den Schultern zu zucken und zu sagen: "Sie ist halt gefühlsstark", wenn das Kind einem anderen wehtut oder ihm Schimpfwörter an den Kopf wirft, ist keine Option. Auch ein Kind, das energiegeladener ist und seine Gefühle intensiver erlebt, muss lernen, die Grenzen anderer zu respektieren und Konflikte ohne Gewalt zu lösen

Das Kind schrittweise darin anzuleiten, nicht mehr so oft über sein Temperament zu stolpern, verlangt Ihnen zwar einiges an Durchhaltewillen ab. Und an manchen Tagen mag es sich anfühlen, als seien alle Bemühungen fruchtlos. Bleiben Sie Ihrem Kind zuliebe trotzdem dran. Denn Beharrlichkeit, Sensibilität, eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit und die Bereitschaft, sich begeistern zu lassen, sind ja eigentlich gute Eigenschaften. Sie müssen nur zur richtigen Zeit und am richtigen Ort zur Entfaltung kommen können. 

Letzte Aktualisierung: 02.02.2024, TV