"Schattenkinder" - Geschwister von Kindern mit Krankheit oder Behinderung

Mit welchen Herausforderungen Geschwisterkinder konfrontiert sind und welche Unterstützung sie brauchen.

Kind mit Downsyndrom wird von seiner grossen Schwester umarmt
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Die schwere Krankheit oder die Beeinträchtigung eines Kindes wirkt sich auf die ganze Familie aus - auch auf die Brüder und Schwestern des betroffenen Kindes. 

Was versteht man unter dem Begriff "Schattenkinder"?


Als "Schattenkinder" werden Kinder bezeichnet, die ein Geschwister mit einer schweren Erkrankung oder Behinderung haben. Weil ihre Bedürfnisse bei all den Herausforderungen der Familie in den Hintergrund geraten, befinden sie sich sozusagen im Schatten. Auch im Spital- und Therapiealltag sind die Geschwister meist "unsichtbar", denn der Fokus ist in erster Linie auf das Kind mit einer Krankheit oder Beeinträchtigung und in zweiter Linie auf seine Eltern gerichtet. 

Fachpersonen verwenden anstelle des Begriffs "Schattenkinder" die Bezeichnung "Geschwisterkinder", da diese weniger stigmatisierend ist. Es ist nicht genau bekannt, wie viele solche Geschwisterkinder es in der Schweiz gibt. Schätzungen zufolge sind es mindestens 40'000.

Wichtig ist: Obschon es eine einheitliche Bezeichnung für diese Kinder gibt, erlebt keines von ihnen die Situation genau gleich wie ein anderes, denn jede Familie ist einzigartig. Zwar haben Studien gewisse Gemeinsamkeiten von Geschwisterkindern gezeigt, die gleichen Untersuchungen belegen aber auch, dass der Umgang mit den Herausforderungen und die Bedürfnisse sehr individuell sind

Was prägt die Geschwisterkinder?


Wenn ein Kind schwer erkrankt, mit einer Beeinträchtigung zur Welt kommt oder durch einen Unfall behindert wird, prägt dies den Alltag einer Familie stark. Die Betreuung des betroffenen Kindes nimmt viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch - sei es aufgrund von langen Spitalaufenthalten und medizinischen Eingriffen, wegen verschiedener Therapien oder wegen der Pflege und Betreuung im Alltag. Sorgen um die Gesundheit und die Zukunft des Kindes belasten die Eltern, die aufgrund der Situation oft an den Rand der Kräfte geraten. Hinzu kommen nicht selten finanzielle Engpässe, weil ein Elternteil die Berufstätigkeit reduzieren oder aufgeben muss, um den Bedürfnissen der Familie gerecht zu werden. 

Für die Geschwisterkinder bedeutet dies, dass weniger Zeit für sie bleibt. Obschon die Eltern sich darum bemühen, allen Kindern ihre Zuwendung und Aufmerksamkeit zu schenken, müssen die Bedürfnisse der nicht betroffenen Geschwister im Alltag oft zurückstehen. Für Hilfe bei den Hausaufgaben bleibt wenig Zeit und unter Umständen sind Familienausflüge oder gemeinsame Ferien kaum möglich. Bei manchen Familien ist auch der Freundeskreis stark eingeschränkt. Dies einerseits, weil wenig Zeit bleibt, um Freundschaften zu pflegen und anderseits, weil es zuweilen im Umfeld an Verständnis für die Situation fehlt. 

Geschwisterkinder werden in vielen Familien auch in die Betreuung mit einbezogen. Zwar zeigen Befragungen, dass die Kinder seltener für Pflegehandlungen wie Anziehen, Füttern oder Duschen verantwortlich sind. Zwischendurch mal auf den Bruder oder die Schwester aufzupassen oder ihn oder sie an einen Ort zu begleiten gehört aber für viele Geschwisterkinder zum Alltag. Manche Geschwisterkinder berichten jedoch auch, dass von ihnen Mithilfe in der Pflege erwartet wird. 

Welche Auswirkungen haben die Herausforderungen?


Um den Eltern nicht zusätzlich zur Last zu fallen, verhalten sich Geschwisterkinder oftmals sehr angepasst und sie üben sich in grosser Rücksichtnahme. Als Erwachsene berichten viele von ihnen, sie hätten sich selber fast bis zur Selbstaufgabe zurückgenommen und eigene Probleme für sich behalten. Möglicherweise legt ein Kind aber auch ein auffälliges Verhalten an den Tag, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.

Die Herausforderungen im Familienalltag führen vielfach dazu, dass Geschwisterkinder sehr verantwortungsbewusst und selbständig sind. Auch das Einfühlungsvermögen und die Sozialkompetenz können ausgeprägt sein, weil die Kinder schon früh lernen, auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen. Menschen mit einer Beeinträchtigung begegnen sie oft mit grosser Offenheit und Untersuchungen deuten darauf hin, dass Geschwisterkinder häufig Berufe im Sozialbereich wählen. Manche suchen sich aber auch ganz bewusst keinen sozialen Beruf aus. 

Mit dem Erwachsenwerden steht für viele Geschwisterkinder die Frage im Raum, wer sich um die Schwester oder den Bruder kümmern wird, wenn die Eltern es nicht mehr können. Bei der Zukunftsplanung werden deshalb meist auch ihre oder seine Bedürfnisse mit einbezogen. 

Was brauchen Geschwisterkinder?


Damit Geschwisterkinder mit den Herausforderungen des Alltags besser klarkommen, ist es wichtig, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Besonders zentral sind:

Altersgerechte Erklärungen: Wenn Kinder eine Situation nicht verstehen, ziehen sie ihre eigenen Schlüsse daraus. So können sie zum Beispiel Ängste entwickeln, ihnen könnte dasselbe zustossen wie dem Bruder oder der Schwester. Auch Schuldgefühle gegenüber dem Geschwister sind möglich, weil man selber gesund oder unbeschwert spielen darf, während es sich einer medizinischen Behandlung unterziehen muss. Oder weil auch ein krankes oder behindertes Geschwister zuweilen nervt und man nicht immer die nötige Geduld aufbringt. 

Um Unsicherheiten, Ängste und Schuldgefühle möglichst zu verhindern, sollten Eltern ihren Kindern die Situation verständlich erklären und versuchen, auf ihre vielen Fragen Antworten zu finden. Insbesondere, wenn ein Kind ganz plötzlich schwer erkrankt, gehen solche Erklärungen in der Hektik und Traurigkeit oftmals vergessen und Geschwisterkinder bleiben mit ihren Fragen und Sorgen alleine. 

Zeit und Raum für eigene Interessen: Die Zeit und unter Umständen auch das Geld können knapp sein, sodass das Pflegen von Hobbys erschwert ist. Dennoch ist es wichtig, diese Möglichkeiten zu schaffen, wenn nötig mit externer Unterstützung. Für Geschwisterkinder sind solche Auszeiten vom Alltag von grosser Bedeutung. 

Zeit alleine mit den Eltern: Auch wenn dies organisatorisch sehr schwierig sein kann, sollten Geschwisterkinder hin und wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern oder eines Elternteils bekommen. Hier können Entlastungsangebote von verschiedenen Organisationen eine grosse Unterstützung sein. 

Erwachsene, die im Alltag Zeit haben: Menschen, die sich Zeit nehmen, bei den Hausaufgaben zu helfen oder einen Ausflug zu machen, sind Gold wert. Erst recht, wenn sie auch noch ein offenes Ohr haben für die Sorgen und Fragen von Geschwisterkindern. Grosseltern, Gotte und Götti, Freunde oder Nachbarn können in dieser Hinsicht eine wertvolle Unterstützung für die ganze Familie sein. 

Einen möglichst unbeschwerten Umgang mit dem Geschwister: Gemeinsame schöne Erlebnisse schweissen die Familie zusammen - obschon der Aufwand, sie zu organisieren, unter Umständen gross sein kann. Zu einem unbeschwerten Umgang gehört aber auch, dass man bei aller Rücksichtnahme hin und wieder sauer sein darf auf das Geschwister. 

Klare Absprachen: Geschwisterkinder sollten nicht auf Abruf für ihren Bruder oder ihre Schwester da sein müssen. Es fällt viel leichter, sich um seine oder ihre Bedürfnisse zu kümmern, wenn man im Voraus weiss, wann man gebraucht wird und wenn die Hilfe nicht als jederzeit verfügbare Selbstverständlichkeit gesehen wird. Wichtig ist auch, dem Geschwisterkind nicht mehr Verantwortung aufzubürden, als es tragen kann. 

Handlungsmöglichkeiten: Unbedachte oder verletzende Bemerkungen über die Schwester oder den Bruder können für Geschwisterkinder sehr belastend sein. Deshalb sollten sie sich gemeinsam mit den Eltern überlegen, wie sie bei unangenehmen Begegnungen reagieren können. Hilfreich sind auch einfache Erklärungen, die man geben kann, wenn jemand Fragen stellt. 

Handlungsmöglichkeiten braucht es aber auch im Umgang mit dem Bruder oder der Schwester: Wie kann ich in einem Konflikt richtig reagieren? Oder: Wie kann ich meine Grenzen ziehen, wenn er oder sie diese nicht erkennt? 

Hilfsangebote: Wenn alles zu viel wird, kann es wichtig sein, einen Ort zu haben, wo Geschwisterkinder offen über ihr Erleben und über ihre Gefühle reden können und Hilfe bekommen, z. B. in einer psychologischen Beratung. 

Verständnis: Beklagt sich ein Geschwisterkind, es finde von niemandem Beachtung, braucht es keine Zurechtweisung, sondern Erwachsene, die sich in seine Lage einfühlen und mit ihm darüber reden, was sich ändern müsste, damit es ihm besser geht. 

Eltern, die Hilfe annehmen können: Vielen Eltern fällt es schwer, externe Entlastungsangebote in Anspruch zu nehmen. Diese können jedoch enorm hilfreich sein, damit auch die Mutter und der Vater hin und wieder neue Kraft tanken können für ihren anspruchsvollen Alltag. 

Letzte Aktualisierung: 10.09.2025, TV