Cycle Breaking - mit alten Erziehungsmustern brechen
Wie es gelingen kann, die immer gleichen Kreisläufe zu durchbrechen und in der Erziehung neue Wege zu gehen.
Kennen Sie diese Situation? Ihr Kind ist hingefallen und weint nun bitterlich. Eigentlich wüssten Sie genau, dass es jetzt Trost bräuchte. Doch weil Sie gestresst sind, bricht es aus Ihnen heraus: "Nun hab dich doch nicht so. Das hat doch gar nicht wehgetan." Zwei Sätze, die Sie in Ihrer Kindheit unzählige Male gehört haben - und die Sie Ihrem Kind gegenüber nie in den Mund nehmen wollten. Warum passiert so was, wo Sie sich doch stets vorgenommen hatten, einfühlsamer zu sein als Ihre Eltern?
Was versteht man unter Cycles (Kreisläufen)?
Auch wenn wir es gerne anders hätten: In ganz vielen Lebenslagen - insbesondere, wenn wir gestresst sind - reagieren wir nicht wohlüberlegt und der Situation angemessen. Stattdessen handeln wir automatisch und unbewusst so, wie wir es über Jahre eingeübt haben. Dabei prägt uns stark, wie wir aufgewachsen sind. Unsere Kindheit wiederum wurde dadurch beeinflusst, wie unsere Eltern von ihren Eltern erzogen worden sind, nach welchen Glaubenssätzen und Überzeugungen die Generationen vor ihnen gehandelt haben und welche Erfahrungen sie in ihrem Leben gemacht haben.
Auf diese Weise werden Verhaltensmuster in einer Art Kreislauf von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Die Muster, die sich herausbilden, werden geprägt durch persönliche Erfahrungen, durch Beziehungen innerhalb und ausserhalb der Familie, durch gesellschaftliche, kulturelle oder religiöse Einflüsse, in manchen Fällen aber auch durch Schicksalsschläge und traumatische Erlebnisse. Solange Eltern sich nicht bewusst damit auseinandersetzen, welche Verhaltensweisen sie beeinflusst haben und ob sie diese in der Erziehung beibehalten möchten, dreht sich dieser Kreislauf (Cycle) immer weiter.
Was ist Cycle Breaking?
Cycle Breaking bedeutet, diesen Kreislauf zu unterbrechen. Also alte Verhaltensweisen zu erkennen, sie abzulegen und stattdessen neue Wege in der Erziehung zu gehen.
Cycle Breaking hat nicht zum Ziel, den vorangehenden Generationen Vorwürfe zu machen und ihnen Schuld zuzuweisen. Durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird nämlich oftmals klar, dass Eltern und Grosseltern nicht aus bösem Willen gehandelt haben, sondern weil die Zeiten anders waren, weil sie etwas Belastendes erlebt haben oder weil der Wissensstand über Kindererziehung ein anderer war.
Kreisläufe zu durchbrechen bedeutet auch nicht, einfach aus Prinzip das Gegenteil von dem zu tun, was die eigenen Eltern oder Grosseltern getan haben. Das Risiko, dabei ins andere Extrem zu kippen, wäre zu gross.
Schliesslich geht es auch nicht darum, alles Althergebrachte über Bord zu werfen. Rituale und Traditionen haben ihren Wert und können Kindern Struktur und Sicherheit vermitteln. Wichtig ist, die Dinge nicht einfach beizubehalten, weil "man das halt so macht", sondern weil sie sich als wertvoll und erhaltenswert erwiesen haben.
Woran erkennt man Muster, die durchbrochen werden müssen?
Wie finden Eltern heraus, wo sie den Hebel ansetzen müssen? Immerhin gibt es da so einiges, was sich ändern müsste, damit es in der Familie harmonischer läuft. Am besten beginnen Sie dort, wo auch tatsächlich ein Leidensdruck besteht, also bei einem Verhalten, das weder Ihrem Kind noch Ihnen guttut.
Verhaltensmuster sollten Sie angehen, wenn
Sie in stressigen Situationen, ohne es zu wollen, immer wieder so reagieren, wie Ihre eigenen Eltern oder Grosseltern es getan haben und dieses Verhalten Sie bereits in der Kindheit jeweils gestört oder verletzt hat.
Sie bei bestimmten Gelegenheiten regelmässig in eine Überforderung geraten oder übermässig heftig reagieren.
die Beziehung zu Ihrem Kind leidet.
Themen immer wieder zu Streit oder Spannungen in der Familie führen, sodass Sie bestimmte Situationen schon im Voraus fürchten.
ein Verhalten Sie in Ihrem Alltag einschränkt, z. B. eine grosse Ängstlichkeit.
Wie gelingt es, Kreisläufe zu durchbrechen?
Im Prinzip ist es ganz einfach: Nachdem Sie identifiziert haben, welches in Ihrer Familie gängige Verhaltensmuster schädlich ist, überlegen Sie sich, wie Sie stattdessen handeln möchten und üben dieses neue Verhalten ein.
Das Problem ist, dass die Frage nach den eingeprägten Verhaltensmustern in der Familie oftmals alte Wunden aufbrechen lässt. Der Rückblick auf die eigene Kindheit kann Schmerzhaftes zutage befördern. Dies kann Sie davon abhalten, sich näher mit bestimmten Themen auseinanderzusetzen. Um etwas ändern zu können, ist es jedoch wichtig, diese Verletzungen anzuerkennen und die damit verbundenen Gefühle zuzulassen. Bei traumatischen Erlebnissen braucht es dazu eine professionelle Begleitung.
Wichtig ist auch die Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Erlebte die eigenen Überzeugungen geprägt hat und sich auf das eigene Verhalten gegenüber dem Kind auswirkt. Wurden Sie zum Beispiel als Kind regelmässig streng bestraft, kann dies zwei ungünstige Verhaltensweisen zur Folge haben: Sie setzen ebenfalls strenge Strafen als Erziehungsmittel ein, weil Sie das so gelernt haben - oder Ihr Kind muss sich niemals mit den Konsequenzen seines Handelns auseinandersetzen, weil Sie ihm alles durchgehen lassen, um alles anders zu machen als Ihre Eltern. Bevor Sie sich also neue Handlungsstrategien zurechtlegen können, kommen Sie nicht darum herum, Ihr eigenes Verhalten ehrlich zu reflektieren.
Schliesslich gilt es, sich zu überlegen, wie Sie in Zukunft mit den herausfordernden Situationen umgehen möchten, damit Ihr Kind in einem Umfeld aufwachsen darf, das durch andere Verhaltensmuster geprägt ist. Und weil sich diese nur durch stetiges Wiederholen festigen können, heisst es von nun an, das neue Verhalten möglichst konsequent einzuüben.
Dies geschieht vielleicht in ganz kleinen Schritten: Sich anzugewöhnen, dreimal tief durchzuatmen und sich zu sammeln, wenn im Kinderzimmer alles drunter und drüber geht, anstatt an die Decke zu gehen. Bewusst eine kurze Pause einzulegen, bevor alles zu viel wird. Oder sich anzugewöhnen, in Ich-Botschaften zu reden, anstatt das Kind mit Vorwürfen zu überhäufen. Also zum Beispiel: "Mich hat die Situation vorhin so wütend gemacht." und nicht "Du machst mich rasend mit deinem Verhalten."
Wie umgehen mit Fehlern?
Dass beim Üben hin und wieder Fehler passieren, versteht sich von selbst. Und das darf auch sein. Entscheidend ist, wie Sie damit umgehen, dass Sie immer mal wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen.
Ihrem Kind gegenüber sollten Sie ehrlich sein und ihm erklären, warum Sie falsch reagiert haben und dass Ihnen Ihr Verhalten leidtut. Als Mutter oder Vater fällt Ihnen kein Stein aus der Krone, wenn Sie sich aufrichtig bei Ihrem Kind entschuldigen. Im Gegenteil, es lernt dadurch: Fehler sind erlaubt und es ist möglich, einander zu verzeihen.
Mit sich selbst sollten Sie nicht zu streng sein. Sie geben Tag für Tag Ihr Bestes - dass Sie da zuweilen über Ihre Gefühle stolpern, ist vollkommen normal. Der Entschluss, Kreisläufe zu durchbrechen, bedeutet nicht, keine Fehler mehr zu machen.
Wie umgehen mit Widerständen?
Wenn Sie Kreisläufe durchbrechen, können Sie zuweilen auf Widerstand stossen. Zum Beispiel beim Einkaufen, wenn Ihr Kind lauthals nach Süssigkeiten verlangt und Sie so anders auf sein Verhalten reagieren, als es der ältere Herr erwartet, der hinter Ihnen an der Kasse steht. Ungebetene Kommentare können in solchen Situationen sehr verunsichernd sein und den Stress, den Sie ohnehin empfinden, noch verstärken. Dennoch sollten Sie versuchen, bei Ihrem eingeschlagenen Weg zu bleiben, denn Sie sind Fremden gegenüber keine Rechenschaft schuldig.
Schwieriger kann es sein, wenn Sie im familiären Umfeld auf Widerstand stossen. Eltern und Grosseltern, die alles auf ihre Weise getan haben, verstehen möglicherweise nicht, warum Sie die Dinge anders angehen. Und vielleicht fühlen sie sich auch ein wenig angegriffen, denn Sie versuchen ja, Muster abzulegen, die in Ihrer Kindheit als normal galten. Erklären Sie ihnen in einer ruhigen Minute, warum Ihnen gewisse Punkte in der Erziehung wichtig sind und was Sie anders handhaben möchten. Achten Sie dabei darauf, ihnen keine Vorwürfe zu machen, sondern schildern Sie einfach Ihre Sichtweise.
Beharren Sie nicht darauf, dass Ihre Eltern alles genau gleich machen wie Sie, nachdem Sie sich dazu entschieden haben, gewisse Dinge anders anzugehen. Sofern sie dem Kind gegenüber kein verletzendes Verhalten an den Tag legen, ist alles in bester Ordnung, auch wenn es bei Grosi oder Opa ein wenig anders läuft als zu Hause. Kinder können mit solchen Unterschieden gut umgehen.
Herausforderungen beim Cycle Breaking
So sehr Sie sich darum bemühen, alte Verhaltensmuster abzulegen - Sie werden keine perfekten Eltern sein. Und das müssen Sie auch nicht. In Ihrer Familie werden sich ebenfalls bestimmte Verhaltensmuster einschleifen, die Ihre Kinder später vielleicht kritisch sehen. Cycle Breaking bedeutet nicht, in der Erziehung Perfektion anzustreben. Es ist auch nicht Ihre Aufgabe, dem Kind alle Steine aus dem Weg zu räumen. Natürlich sind Eltern darum bemüht, ihrem Kind die bestmögliche Kindheit zu bieten. Dennoch wird es nicht um schmerzhafte Erfahrungen herumkommen, aus denen es seine Lehren zieht.
Sie müssen das alles auch nicht alleine schaffen. Tauschen Sie sich als Elternpaar miteinander aus und suchen Sie Kontakt zu anderen Müttern und Vätern, die eine ähnliche Sichtweise haben wie Sie. Scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe anzunehmen, wenn der Blick auf die Vergangenheit Themen ans Licht befördert, die Sie als belastend empfinden.
Wenn Sie sich darauf achten, was sich alles ändern sollte, kann zudem leicht vergessen gehen, was alles gut läuft im Familienalltag. Richten Sie den Fokus deshalb nicht alleine auf die Verhaltensmuster, die Sie ablegen möchten, sondern auch auf all die Momente, in denen das Zusammenleben in der Familie richtig schön ist.
Ganz wichtig ist ausserdem: Cycle Breaking ist niemals abgeschlossen, sondern ein stetiger Prozess. Erwarten Sie deshalb nicht, dass es in Ihrem Familienalltag irgendwann keine Baustellen mehr geben wird.