Hebammengeleitete Geburtshilfe in Schweizer Spitälern 

Interview mit Marianne Haueter

Schwangere betreut durch Partner und Hebamme

swissmom: Liebe Frau Haueter, was genau bedeutet hebammengeleitete Geburtshilfe? 

Marianne Haueter: Es gibt verschiedene hebammengeleitete Geburtshilfemodelle, welche in anderen Ländern erprobt sind. Zentral ist, dass die fachliche Betreuung der Frauen und die organisatorische Leitung einer Abteilung oder Einheit, in der Verantwortung von Hebammen liegt. Ein weiterer wesentlicher Punkt beinhaltet die Kontinuität in der Betreuung von der Schwangerschaft, über die Geburt bis in die Wochenbettzeit. Wir plädieren für eine Vielfalt der Modelle, weil Regionen und Institutionen in der Schweiz verschiedene Ausgangslagen haben. In kleinen Spitälern können diese Modelle ebenfalls attraktiv sein. Diese haben das Potential die Zahl der Fachärzte und Kosten einzusparen und die geburtshilfliche Grundversorgung in Randregionen trotzdem mit guten Resultaten aufrechtzuerhalten. Es sind zum Beispiel Beleghebammensysteme oder sogenannte „caseload Midwifery“ Modelle dazu gut geeignet. Letzteres ist ein Modell, bei dem eine Gruppe von Hebammen eine Gruppe von Frauen kontinuierlich ambulant und stationär betreut.   

Zur Person

Marianne Haueter ist Präsidentin der Sektion Bern des Schweizerischen Hebammenverbandes und äussert sich in deren Namen zur Petition des Hebammenverbandes zur Einführung hebammegeleiteter Geburtshilfe in Schweizer Spitälern, die in den letzten Wochen in den Medien hohe Wellen geschlagen hat.

swissmom: An wen würde sich dieses Angebot in Schweizer Spitälern richten? 

Marianne Haueter: Solche Angebote richten sich primär an gesunde Frauen mit geringem Risiko für Komplikationen.  

swissmom: Hätten die Frauen weiterhin die Wahlmöglichkeit, von wem sie sich betreuen lassen wollen? 

Marianne Haueter: Ja selbstverständlich. Was für ein Betreuungsmodell eine Frau auch immer wählt, sie hat jederzeit das Recht einen Wechsel vorzunehmen. In den heute üblichen Modellen der Spitalgeburt hat sie eigentlich am wenigsten Wahl. Eine Frau trifft dort auf die diensthabenden Hebammen und Ärzte oder ihr Belegarzt kommt dazu. In einem hebammengeleiteten Modell, das auf Kontinuität ausgerichtet ist, hat die Frau die Möglichkeit ihre Hebamme(n) schon vorher kennen zu lernen.  

swissmom: Wird es für eine Frau, die sich für die hebammengeleitete Betreuung entschieden hat, weiterhin möglich sein einige Untersuchungen (z.B. Ultraschall) bei ihrer Ärztin/ ihrem Arzt durchführen zu lassen? 

Marianne Haueter: Hebammengeleitete Geburtshilfemodelle heißt nicht ohne Fachärzte, sondern sie werden nur bei Bedarf beigezogen. Nehmen wir ein Beispiel: Eine Frau wählt ein Hebammenbetreuungsangebot bereits in der Schwangerschaft aus. In den Krankenkassenleistungen der Grundversicherung hat sie heute sechs Vorsorgeuntersuchungen bei einer Hebamme bezahlt oder sieben beim Arzt, sowie zwei Ultraschalluntersuchungen und einige Labortest. In einem hebammengeleiteten Modell würde die Fallführung bei der Hebamme liegen. Das heißt sie könnte zum Beispiel fünf Vorsorgeuntersuchungen bei der Hebamme in Anspruch nehmen und zwei Ultraschalluntersuchungen könnten beim Facharzt stattfinden. Zur Geburt würde sie wiederum ausschließlich von einer Hebamme betreut. Im Falle einer medizinischen Notwendigkeit würde die Hebamme den diensthabenden Arzt beiziehen. Nach der Geburt könnte die Frau entweder direkt nach Hause gehen und sich dort weiter durch eine Hebamme betreuen lassen. Sie könnte dies auch nach einem drei- viertägigen Spitalaufenthalt tun und sich bis zum 10. Tag nach der Geburt durch die Hebamme weiterbetreuen lassen. Sie hat insgesamt Anspruch auf 10 Tage finanzierte Wochenbettbetreuung durch eine Hebamme. Sofern Gründe für eine längere Betreuung vorliegen, geschieht dies in Zusammenarbeit mit einem Arzt. Hebammengeleitete Betreuungsmodelle bedeuten also nicht auf die Dienstleistungen von anderen Berufsgruppen zu verzichten.   

swissmom: Gibt es in der Schweiz oder im Ausland bereits Erfahrungen mit hebammengeleiteten Abteilungen in Spitälern?  

Marianne Haueter: In angelsächsischen und skandinavischen Ländern sind solche Modelle seit langem im Angebot der Versorgung und sie weisen im Vergleich zu herkömmlichen Modellen gute Resultate auf. Sie sind auch gut erforscht und es liegt eine große Zahl von Untersuchungen vor. Deren Resultate zeigen, es gibt weniger Interventionen wie Dammschnitte, Kaiserschnitte usw., die Frauen sind auch zufriedener und dies bei gleich guten Gesundheitsergebnissen. Auch in Deutschland gibt es mittlerweile in großen Kliniken 14 Hebammenkreißsäle. In der Schweiz haben wir in wenigen Kliniken Modelle, die jedoch nicht in ausschließlicher fachlicher und organisatorischer Verantwortung der Hebammen liegen. Zudem sind sie noch zu wenig auf die Kontinuität der Betreuung von Schwangerschaft bis ins Wochenbett ausgelegt. Hebammengeleitete Geburtshilfe ist an sich nichts Neues – sie war der Normalfall über Jahrhunderte bis in die 1960iger Jahre. Von da an entwickelte sich die Spitalgeburt zur Regel und die Rolle der Hebammen im Spital hat sich dabei gerade in die andere Richtung verändert, obwohl die Ausbildung viel umfassender und länger geworden ist. 

swissmom: In der Schweiz ist bei Spitalgeburten schon heute immer eine Hebamme anwesend, warum braucht es die Petition des Hebammenverbandes noch? 

Marianne Haueter: Anwesend schon, aber das genügt nicht. Die Möglichkeiten und Kompetenzen der Hebammen wird in den heutigen Spitalstrukturen viel zu wenig genutzt. In diesen Organisationsformen haben Hebammen oft mehrere Frauen gleichzeitig zu betreuen und wenn die Zeit für Betreuung und Unterstützung fehlt, werden mehr Medikamente eingesetzt und es wird mehr interveniert. Zudem sind auch Ärzte unter Zeitdruck. Nebenbei läuft zum Beispiel noch die Praxis oder der Operationsbetrieb. Wenn Privatkliniken teils Kaiserschnittraten von über 50% bei vorwiegend gesunden Frauen aufweisen, stimmt etwas nicht. Solche Raten sind medizinisch nicht zu rechtfertigen. Als Paradox kommt dazu, ein Spital verdient mehr an einem Kaiserschnitt, der insgesamt nur einen Bruchteil der Zeit dauert im Vergleich zur spontanen Geburt. Hebammen haben da kaum Einfluss. Entscheidende Weichen über die Art der Geburt werden oft bereits in der Schwangerenvorsorge gestellt. Nur gerade 11% der Frauen kommen in der Schweiz in den Genuss einer kontinuierlichen Betreuung durch die Hebamme von Beginn der Schwangerschaft bis in die Wochenbettzeit. Die Hebammen sind in Spitälern faktisch den Ärzten unterstellt, obwohl Gesetzgebung und die Berufskompetenzen die Leitung der normalen Geburt in den Zuständigkeitsbereich der Hebammen vorsieht. Dies sind strukturelle Gegebenheiten, welche die normale physiologische Geburt nicht fördern. In dieser Art der Gesundheitsversorgung ist die Aufklärung der Frauen über die gesundheitlichen Vorteile der spontanen Geburt für sie und das Kind oft ungenügend. Frauen werden auch zu wenig in ihrem eigenen Potential und ihren gesunden Anteilen gestärkt. Ein normaler physiologischer Prozess hat sich zum behandlungsbedürftigen Zustand gewandelt. Die zwei Berufsgruppen Ärzte und Hebammen sind ganz unterschiedlich ausgebildet, haben unterschiedliche Betrachtungsweisen und unterschiedliche Aufgaben. Einfach gesagt, die einen betreiben Geburtshilfe und die anderen Geburtsmedizin. Dies ist an sich eine sehr ideale Ergänzung, wenn im Einzelfall beides erforderlich ist. Nur, der gesunde normale Einzelfall ist mittlerweile von der Geburtsmedizin zunehmend vereinnahmt worden.

swissmom: In den Medien wurde viel über die Petition zur hebammengeleiteten Geburtshilfe berichtet. Zum Teil wurde der Eindruck erweckt, Hebammen und Ärzte würden sich bekämpfen und die Kompetenzen der anderen Berufsgruppe in Frage stellen. Entsprechen solche Medienberichte der Realität? 

Marianne Haueter: Nein, dies sind journalistisch hochstilisierte boulevardmässige Berichterstattungen. Auch die Äußerung eines Chefarztes, diese Modelle sei eine Gefahr für Mutter und Kind entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage, sie ist polemisch und diskreditiert Hebammenarbeit. Es spiegelt auch nicht die Auffassung von vielen Ärzten, die ich kenne. Die meisten sowohl Hebammen und Ärzte sind an einer kollegialen und guten Zusammenarbeit interessiert. Ich meine, es ist heute allen klar, dass nur eine gut funktionierende interdisziplinäre Zusammenarbeit auch gute Resultate in der Gesundheitsversorgung erbringt. 

swissmom: Wie stellen Sie sich eine optimale Versorgung von Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen in der Schweiz vor?  

Marianne Haueter: Unsere Vision ist: Hebammen sind in der geburtshilflichen Versorgung die führenden Fachleute für Frauen ohne Komplikationen, und für Frauen mit einer drohenden gesundheitlichen Gefahr sind sie die führenden Koordinatorinnen für die Betreuung in einem interdisziplinären Team über die ganze Zeitspanne. Dieses Modell ist nichts Neues und wurde zum Beispiel in Neuseeland in den 90iger Jahren wieder eingeführt oder in Kanada sind sie am Entstehen. Diese Modelle haben viele Vorteile für die Gesundheitserhaltung und -förderung von Mutter und Kind. Die Art der Gesundheitsversorgung muss den Bedürfnissen und dem spezifischen und anspruchsvollen Übergangsprozess in die Elternschaft angepasst sein. Deshalb sind nicht ausschließliche medizinische Modelle für einen normalen Prozess in die Elternschaft geeignet. Lassen Sie mich dies veranschaulichen: Mutter werden ist ein Kontinuum, das heißt es ist ein Prozess der sich über längere Zeit von der Schwangerschaft bis in die ersten Monate nach der Geburt entwickelt. Dabei sind diese Prozesse voneinander abhängig und voneinander beeinflusst. Mit anderen Worten, das was in der Schwangerschaft geschieht hat Einfluss auf die Geburt und diese wiederum auf die Zeit danach im Wochenbett.  Die heutige übliche Gesundheitsversorgung orientiert sich nicht an diesem Prozess. Sie zeichnet sich aus durch eine hohe Zerstückelung. Das heißt, viele verschiedene Gesundheitsfachleute sind in diesen Prozess involviert. Dies hat verschiedene Nachteile; Eltern erhalten zum Beispiel unterschiedliche oder ungenügende Informationen, es werden unnötige Untersuchungen und Eingriffe vorgenommen. Damit Frauen und Männer die Zeit der Familienwerdung selbstbestimmt und mit einer individuell zugeschnittenen Unterstützung durchleben können, müsste eine kontinuierliche Hebammenbetreuung jeder Frau zustehen. Eine wichtige Triebfeder hinter dieser Petition sind die unerträglichen Dilemmas, worin sich Hebammen öfters befinden. Sie werden Ausführende von Entscheiden, die sie nicht beeinflussen können und wo sie der Überzeugung sind, dass es im Einzelfall mit einer anderen Begleitung der Frau auch zu anderen Möglichkeiten geführt hätte. 

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Letzte Aktualisierung: 05.11.2019, CH