Ist Ihr Kind in der Autonomie- oder Trotzphase?

Warum die Trotzphase wichtig ist und wie Sie als Eltern darauf reagieren sollten.

Kind mit einem Trotzanfall
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Wenn ein kleines Kind aus heiterem Himmel in Wut gerät, um sich schlägt und sich auf dem Fussboden wälzt, stehen Erwachsene meist ziemlich rat- und hilflos daneben. Woher kommen diese starken Gefühle? Warum machen sie sich selbst beim friedlichsten Kind auf die eine oder andere Weise bemerkbar? Und wie kommen Sie gut durch diese herausfordernde Phase? 

Warum haben Kinder eine Trotzphase?


Beim berühmt-berüchtigten Trotzalter handelt es sich um eine Autonomiephase, also ein erstes Ablösen von den Eltern. Im Alter von 1,5 bis 2 Jahren beginnt das Kind, sich als eigenständige Persönlichkeit wahrzunehmen und seinen eigenen Willen zu entwickeln. Es erkennt sich im Spiegel und redet vermehrt in der ersten Person von sich. Seine motorischen Fähigkeiten sind so weit entwickelt, dass es viele Dinge selber in Angriff nehmen kann. "Selber" und "alleine" sind denn auch zwei Wörter, die es immer öfter sagt, wenn Erwachsene ihm helfen wollen, denn jeder Mensch hat ein Grundbedürfnis nach Autonomie, Einfluss oder Kontrolle. 

In dieser Entwicklungsphase möchte das Kind sich seine kleine Welt erobern und seine eigenen Wege gehen. Dabei stösst es jedoch immer wieder an Grenzen: Weil es eine Sache doch noch nicht so gut kann, wie es sie können möchte. Weil die Eltern andere Pläne haben und es an seinem Vorhaben hindern. Oder weil sie panisch "Stopp!" rufen, wenn es eine unglaublich spannende Sache mal etwas genauer untersuchen möchte. 

Die Spannung zwischen dem, was es will und dem, was es kann und darf, löst beim Kind zuweilen tiefe Verzweiflung und Wut aus. Diese Gefühle kann es noch nicht einordnen und es ist auch nicht in der Lage, seinen Frust mit Worten auszudrücken. So kommt es zu Wutanfällen, die je nach Temperament des Kindes sehr heftig sein können. Erst mit der Zeit lernt es, weniger aufbrausend auf Frusterlebnisse zu reagieren. Im Alter von etwa 4 Jahren ist die herausfordernde Phase meistens durchgestanden. 

Auslöser, die hinter Wutanfällen stecken können


Zuweilen fühlt es sich so an, als würden die Wutanfälle ohne jeglichen Anlass über das Kind hereinbrechen. Kinder, die müde oder hungrig sind und bereits oft kooperieren mussten (z. B. in der Krippe), sind am Abend nicht mehr zu noch mehr Kooperation in der Lage – ihr Kooperations-Konto ist leer.

Dann wieder gibt es Gelegenheiten, bei denen es immer wieder zu einem Ausbruch kommt, sodass Sie schon mit Anspannung an die Situation herangehen.

Ob Sie nun vom Wutanfall überrascht wurden oder ihn schon mit Bangen erwartet haben –  Ruhe zu bewahren und zu überlegen, was denn der Grund dafür sein könnte, ist in der Hitze des Gefechts meist schwierig. Erst wenn Sie mit etwas Distanz auf die Episode zurückblicken, erkennen Sie, dass es aus Sicht des Kindes durchaus gute Gründe gab, die Fassung zu verlieren. Hier drei Beispiele, die in vielen Familien für Stress sorgen:

  • Das Kind wird aus dem Spiel gerissen: Sie sitzen im Kaffee, Ihr Kind baut in der Spielecke friedlich einen Turm, als Ihnen einfällt, dass in zehn Minuten der Bus fährt. Sie bezahlen die Rechnung, wollen Ihr Kind bei der Hand nehmen und gehen – und schon haben Sie ihn, den gefürchteten Tobsuchtsanfall in der Öffentlichkeit. Ihr Kind will jetzt nämlich nicht zur Bushaltestelle eilen, sondern seinen schönen Turm so hoch wie möglich bauen. Wenn ein Kind in eine Sache vertieft ist, vergisst es alles um sich herum; was die Erwachsenen wollen, interessiert es nicht. Wird es nun ohne Vorankündigung aus seiner Tätigkeit gerissen, leistet es verständlicherweise Widerstand. Um dies zu vermeiden, sollten Sie es frühzeitig darauf aufmerksam machen, dass es mit seinem Spiel zu einem Ende kommen muss. Kann es sich gar nicht lösen, können Sie genau das rückmelden: «Oh, du willst wirklich noch weiterbauen, das ist echt schade, dass wir keine Zeit mehr haben.». Womöglich wird das Kind dann weinen und traurig sein, sich aber mit Ihrer Hilfe wieder beruhigen.

  • Das Kind kennt noch keinen Zeitdruck: In der Autonomiephase kommt es regelmässig zur gleichen Auseinandersetzung: Sie haben einen Termin, den Sie unbedingt einhalten müssen, doch Ihr Kind besteht darauf, sich in aller Ruhe selbständig anzuziehen. Je mehr Sie auf Eile drängen, umso langsamer macht es vorwärts – und wenn Sie ihm irgendwann entnervt den Pulli überziehen, endet das Ganze in Wut und Tränen. Ihr Kind widersetzt sich nicht aus Trotz, es hat schlicht und einfach noch kein Zeitgefühl. Zudem ist noch ganz im Hier und Jetzt präsent, Ihr Termin irgendwann in der Zukunft ist noch sehr weit weg. Und warum das selbständige Anziehen, für das es sonst so viel Lob bekommt, heute auf einmal falsch sein soll, kann es nicht verstehen. Damit die Situation beim nächsten Mal nicht wieder eskaliert, planen Sie mehr Zeit für das Bereitmachen ein. Erklären Sie Ihrem Kind, wohin Sie gehen werden und was es dort erwartet. Vielleicht können Sie ihm auch etwas Spannendes in Aussicht stellen, das es zum Vorwärtsmachen motiviert.

  • Das Kind fühlt sich in seiner Neugierde eingeschränkt: Die Welt ist voller spannender Dinge und Ihr Kind hat einen unbändigen Drang, diese zu erforschen. Es denkt dabei weder an Gefahren noch daran, dass die Dinge kaputtgehen können, wenn man sich zu eingehend mit ihnen beschäftigt. Auch dies muss es erst durch Erfahrung lernen. Ihr «Nein» empfindet es daher als unnötige Begrenzung seiner Neugierde und auf Begrenzungen durch andere reagieren die meisten Menschen mit Wut. Das ist bei Kindern nicht anders. Um Ihr Kind auf seinen Entdeckungstouren nur soweit als nötig einzuschränken, sollten Sie die Gefahren beseitigen, die es noch nicht bewältigen kann und somit eine "Ja-Umgebung" schaffen. Alle Dinge, die es erreichen kann, darf es auch benutzen, anschauen oder damit spielen. Die Dinge, mit denen Sie hantieren, findet es besonders interessant. Lassen Sie es darum wo immer möglich mithelfen. Und bestimmt finden Sie im Keller oder im Brockenhaus ein paar interessante Gegenstände, die es so ausgiebig erforschen darf, bis sie in alle Einzelteile zerlegt sind. 

Wie Eltern auf einen Trotzanfall angemessen reagieren können


Als Eltern sind Sie keine unbeteiligten Beobachter, Sie stecken in dieser gefühlsintensiven Phase mittendrin und müssen selber viel Neues lernen. Wutanfälle sind oft schwer auszuhalten – selbst dann, wenn Sie sehr gut verstehen, warum Ihr Kind die Fassung verliert. Und Sie selber sind ja auch nicht immer in der Verfassung, jede Laune geduldig zu ertragen. Damit die Situation nicht eskaliert, empfehlen Fachleute folgendes Vorgehen:

  • «Durchatmen»: Zunächst atmen Sie selbst tief aus und wieder ein, um sich zu beruhigen und sich nicht von der kindlichen Emotion anstecken zu lassen. Machen Sie sich bewusst, dass das Kind es nicht persönlich meint und Sie nicht provozieren möchte, auch wenn Sie sich vielleicht ärgern und provoziert fühlen. Atmen sie weiter bewusst aus uns ein. Vielleicht hat es «blöder Papa» gesagt. Damit meint es «Ich finde es blöd, dass du nein gesagt hast», aber seien sie sicher: Ihr Kind liebt Sie über alles. Atmen Sie weiter.

  • Keine Analyse: Fragen Sie Ihr Kind jetzt noch nicht, warum es so reagiert. Im erregten Zustand kann es nicht vernünftig antworten, seine Logik ist nicht zugänglich. Sie ist sowieso in diesem Alter noch nicht sehr weit entwickelt.

  • Beruhigung: Kleinkinder sind auf ihre Bezugspersonen angewiesen, um sich beruhigen zu können. Dies nennt man Co-Regulation. Kinder, die in schwierigen Momenten co-reguliert werden, können sich später besser selbst beruhigen und ihre Gefühle regulieren. Gehen Sie auf also Ihr Kind zu und bieten Sie körperliche Nähe an. Wenn Ihr Kind das nicht möchte, setzen Sie sich neben ihm auf den Boden und sagen «Ich bin für dich da.». Warten Sie ab, bis das Kind sich beruhigt hat. Sie können auch sagen, «das findest du wirklich blöd. Ich sehe, dass Du ganz verzweifelt / wütend bist.». Vielleicht kommt es auf Sie zu. Nehmen sie es in den Arm, auf den Schoss, streichen ihm sanft über den Rücken und sagen «sch, sch», oder summen oder sagen «ich bin da». Für mehr Worte ist es jetzt wahrscheinlich noch zu früh.

  • Aufarbeitung: Wenn Ihr Kind sich beruhigt hat, versuchen Sie die Hintergründe zu klären. Auf die Frage, "Was hat dich so wütend gemacht?", können auch schon Kleinkinder eine Antwort geben. Versuchen Sie dann gemeinsam eine Lösung für solche Situationen zu finden. 

Kommt es sehr häufig zu Wutanfällen, kann es hilfreich sein, wenn Sie Ihr Verhalten hinterfragen: Was ist jetzt wirklich wichtig, was ist optional? Wo kann ich mich vom Kind überreden lassen, was ist für mich unumstösslich? Hilfreich ist auch, wenn Sie mit Ihrem Kind überlegen, wie es besser mit dem mächtigen Gefühl umgehen kann. Hier ist es wichtig, das Gefühl vom Verhalten zu trennen: Wut darf sein, aber Dinge zerstören oder andere schlagen nicht. Vielleicht hilft es Ihrem Kind, wenn es einen Ort hat, an dem es die Wut rauslassen kann, zum Beispiel eine Ecke im Zimmer, in der es mit Kissen schmeissen und sich austoben darf. Gehen Sie mit ihm gemeinsam dorthin. Manche Kinder sprechen auch gut darauf an, sich die Wut als Person oder Tier vorzustellen, die oder das sie anbrüllen und wegschicken können.

Was hilft Eltern, besser durch die Trotzphase zu kommen?


Die meisten Eltern empfinden die Trotzphase als äusserst herausfordernd. Da ist das sonst so liebe Kind, das auf einmal mit Beschimpfungen wie «blöder Papa» und «dumme Mama» um sich wirft. Da sind Verwandte, Bekannte und Fremde auf der Strasse, die ungefragt Ratschläge erteilen und sich ausgerechnet im schwierigsten Augenblick einmischen. Und da ist allzu oft das Gefühl, versagt zu haben, weil es halt nicht immer gelingen kann, ruhig und geduldig zu bleiben, wenn sich der Nachwuchs schreiend auf dem Boden wälzt und um sich schlägt. Damit Sie besser durch diese Phase kommen, sollten Sie sich einige Dinge immer wieder in Erinnerung rufen:

  • Sie müssen trotziges Verhalten nicht unterbinden, sondern einen Weg finden, wie Sie alle gut damit umgehen können. Widerstand und Trotz sind Teil einer wichtigen Entwicklungsphase

  • Sie brauchen sich in der Öffentlichkeit nicht zu schämen. Es ist normal, dass Kleinkinder ihre Gefühle sehr heftig zeigen.

  • Trotz- oder Verzweiflungsanfälle sind nicht gegen Sie persönlich gerichtet – auch dann nicht, wenn Ihr Kind seine Wut an Ihnen auslässt. 

  • Das Kind trotzt nicht, um Sie zu provozieren oder um Sie zu ärgern, es will Sie auch nicht tyrannisieren. Sie müssen es daher nicht mit Strafen «auf den richtigen Weg zurückbringen». Der richtige Weg ist, dem Kind beim Beruhigen zur Seite zu stehen und Gefühle zuzulassen. 

  • Ihr Kind ist dabei, seinen eigenen Willen zu entdecken, es muss aber auch erfahren, dass diesem Grenzen gesetzt sind. Lernt es, dass es nur laut genug schreien muss, um zu bekommen, was es will, wird es diese Strategie immer wieder anwenden. 

  • Das «Nein» verliert seine Wirkung, wenn es allzu oft eingesetzt wird. Wenige aber klare Regeln und verständliche Konsequenzen bieten Ihrem Kind Orientierung. Daneben braucht es aber auch Freiräume, in denen es mitentscheiden und seine Fähigkeiten entfalten darf und erlebt, wie viel es schon kann.

  • Auch Eltern dürfen wütend werden und Fehler machen. Natürlich sollten Sie Ihre Wut nie am Kind auslassen, Sie dürfen jedoch ungeniert auch mal zornig aufstampfen, wenn Ihnen alles zu viel wird. Atmen Sie aber möglichst früh durch und beruhigen Sie sich selbst. Dann können Sie Ihrem Kind eher vermitteln, dass Sie zornig sind, was Sie wollen und was Sie nicht wollen, ohne dabei laut zu werden. Waren Sie in der Hitze des Gefechts ungerecht, ist es wichtig, dass Sie sich bei Ihrem Kind entschuldigen. 

  • Neben den heftigen Wutanfällen gibt es im Alltag mit einem Kleinkind auch unzählige schöne Augenblicke. Verlieren Sie diese nicht aus den Augen; sie sind genauso wichtig wie die Momente, in denen Ihr Kind die Grenzen seines Willens austestet.

Letzte Aktualisierung: 27.04.2023, TV / JL