Kin­der su­chen nicht Gren­zen, son­dern Kon­takt

In­ter­view mit Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop

Kind klettert auf den Baum
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swiss­mom: Er­zie­hungs­ex­per­ten kri­ti­sie­ren, El­tern hät­ten nicht mehr den Mut, ih­ren Kin­dern Gren­zen zu set­zen. Da­durch wür­den die Kin­der ver­wöhnt, sei­en nicht mehr in der Lage, ein Nein zu ak­zep­tie­ren und des­halb aus­ge­spro­chen schlecht vor­be­rei­tet auf die Her­aus­for­de­run­gen des Le­bens. Tei­len Sie die­se Be­ob­ach­tung?

Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop: Ich fin­de es scha­de, dass die El­tern heu­te so oft kri­ti­siert wer­den. Ich er­le­be in mei­nen Kur­sen, Be­ra­tun­gen und Re­fe­ra­ten, dass 99 % der El­tern ihr Bes­tes ge­ben wol­len und dies in ei­ner Welt, die rie­si­ge Her­aus­for­de­run­gen an sie und ihre Kin­der stellt. Frü­her wur­de noch klar ge­sagt, was rich­tig und was falsch ist, der Leh­rer und der Pfar­rer ga­ben die Rich­tung vor. Dies ist heu­te an­ders, was ei­ner­seits si­cher eine Be­frei­ung ist. Es be­deu­tet aber auch, dass wir un­se­re Wer­te sel­ber de­fi­nie­ren müs­sen. Wir müs­sen uns fra­gen: "Was ist mir per­sön­lich wich­tig, wenn ich mei­ne Kin­der be­glei­te?" Ich sehe, dass vie­le El­tern das glei­che Ziel ha­ben, näm­lich, dass die Kin­der ein ge­sun­des Selbst­wert­ge­fühl ent­wi­ckeln und zu phy­sisch und psy­chisch ge­sun­den Er­wach­se­nen her­an­wach­sen. Ich sehe aber auch, dass vie­le El­tern die Kraft für das Nein nicht mehr ha­ben, weil sie er­schöpft sind. Da­für ver­die­nen sie kei­ne Kri­tik, son­dern Un­ter­stüt­zung. Ich glau­be nicht, dass die Kin­der heu­te schlech­ter aufs Le­ben vor­be­rei­tet sind, ich be­ob­ach­te aber, dass vie­le nicht mehr ge­lernt ha­ben, mit Frust um­zu­ge­hen. 

Zur Per­son

Barbara Frischknecht 1

Barbara Frischknecht-Schoop ist Primarlehrerin, Eltern- und Erwachsenenbildnerin mit eidg. Fachausweis, Elterncoach IEF, familylab-Seminarleiterin nach Jesper Juul, Kursleiterin "Starke Eltern - Starke Kinder®" und "beziehungsstark" sowie Dozentin im "Nanny-Lehrgang" des SRK Zürich. Die Mutter von zwei Kindern leitet ausserdem das "Netzwerk Elternbildung Kanton Appenzell Ausserrhoden". 

swiss­mom: War­um ist es denn wich­tig, dass El­tern ih­ren Kin­dern Gren­zen set­zen?

Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop: Kin­der kom­men mit viel Weis­heit, aber ohne Er­fah­rung zur Welt. Sie brau­chen Er­wach­se­ne, die ih­nen zei­gen, wie die­se Welt funk­tio­niert. Sie brau­chen An­lei­tung. In je­der Fa­mi­lie soll­ten mei­ner Mei­nung nach ei­ni­ge Re­geln - oder ge­ne­rel­le Gren­zen - gel­ten, die das Zu­sam­men­le­ben er­leich­tern. Im bes­ten Fall gel­ten die­se Re­geln auch für die Er­wach­se­nen. Wich­tig sind aber vor al­lem die per­sön­li­chen Gren­zen. Was brau­che ich als Mut­ter oder Va­ter, da­mit es mir sel­ber wohl ist? Dazu braucht es eine ganz kla­re Kom­mu­ni­ka­ti­on. Ich muss sa­gen kön­nen, was ich will und was ich nicht will. Je kla­rer ich mei­ne per­sön­li­chen Gren­zen for­mu­lie­re, umso ein­fa­cher ist es auch für das Kind. Als Mut­ter und als Leh­re­rin habe ich oft er­lebt, dass die Kin­der nicht so sehr nach Gren­zen su­chen, son­dern nach Kon­takt. Je kla­rer und au­then­ti­scher ich bin, umso leich­ter wird die Zu­sam­men­ar­beit mit dem Kind. Ich glau­be, es ist ex­trem wich­tig, dass Kin­der Er­wach­se­ne um sich ha­ben, die sich sel­ber und das Kind ernst neh­men. 

swiss­mom: Wes­halb fällt es man­chen El­tern so schwer, ein kla­res Nein aus­zu­spre­chen, bei dem sie auch blei­ben? 

Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop: Mit ei­nem Nein ma­che ich mich un­be­liebt und nor­ma­ler­wei­se ent­steht da­durch ein Kon­flikt. Vie­le von uns ha­ben Kon­flik­te im Zu­sam­men­hang mit Lie­bes­ent­zug er­lebt und ver­in­ner­licht. Ganz nach dem Mot­to Ja = Lie­be, Nein = Ab­leh­nung und Ab­wer­tung. Dies ist aber nicht so. Hin­ter je­dem Nein steckt ein Ja. Wenn ich mei­ne per­sön­li­chen Gren­zen de­fi­niert habe, ist das Nein ein Ja zu mir, zu mei­nen Be­dürf­nis­sen und mei­nen per­sön­li­chen Wün­schen. Dazu kommt, dass Kin­der auf ein Nein sehr frus­triert re­agie­ren kön­nen. Das ist voll­kom­men in Ord­nung. Sie dür­fen trau­rig, wü­tend und frus­triert sein. Vie­le El­tern hal­ten die­se so­ge­nannt ne­ga­ti­ven Emo­tio­nen der Kin­der nicht aus. Da­bei ist es ei­ner der wich­tigs­ten Be­stand­tei­le der Ent­wick­lung, dass Kin­der ler­nen, mit ih­ren Ge­füh­len um­zu­ge­hen. 

swiss­mom: Wie muss das Nein sein, da­mit es auch et­was be­wirkt?  

Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop: Ich muss zu­erst in Be­zie­hung ste­hen zu mei­nem Kind, da­mit ich über­haupt Ein­fluss neh­men kann. Zu­dem ist es wich­tig, dass ich mir über­le­ge, wie wich­tig mir die­ses Nein ist. Schliess­lich gilt es, klar und deut­lich zu for­mu­lie­ren: "Ich will.../ Ich will nicht...". Auf den ers­ten Blick er­scheint dies als kal­te Spra­che, aber das ist es nicht, denn ich zei­ge mich als Mensch und ma­che mich da­durch ver­letz­lich. Ein Nein muss ich nicht er­klä­ren, aus­ser das Kind fragt da­nach. Dann reicht eine kur­ze Er­klä­rung, wei­te­re Dis­kus­sio­nen braucht es nicht. Dass das Kind frus­triert re­agiert, muss ich aus­hal­ten kön­nen, denn dies ist eine ge­sun­de Re­ak­ti­on. Es ist wich­tig, dass das Kind in die­sem Frust nicht lä­cher­lich ge­macht wird. Wenn es merkt, dass es nicht be­kommt, was es will, folgt auf den Frust die Trau­er. Die­sen Pro­zess braucht es, da­mit das Kind wie­der zur Aus­ge­gli­chen­heit fin­det. Manch­mal braucht dies ziem­lich viel Zeit. 

swiss­mom: Es gibt Pha­sen, in de­nen man als Mut­ter oder Va­ter das Ge­fühl hat, man wür­de an­dau­ernd nur noch nein sa­gen. Gibt es ein Ent­rin­nen aus die­sem Mus­ter, oder müs­sen sol­che Pha­sen ein­fach durch­ge­stan­den wer­den? 

Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop: Es gibt sol­che Pha­sen, vor al­lem, wenn die Kin­der klein sind. Da muss ich als Mut­ter schau­en, dass es mir sel­ber gut geht, dass ich Un­ter­stüt­zung be­kom­me. Ich bin mit mei­nen Kin­dern in die­ser Zeit viel raus­ge­gan­gen, in den Wald oder in den Zoo. Sonst fällt ei­nem die De­cke auf den Kopf. Auch Ri­tua­le hel­fen, denn sie ge­ben Halt und Si­cher­heit, es ist nicht im­mer al­les neu für das Kind. Wenn die­se Pha­se zu lan­ge dau­ert, muss man je­doch ge­nau­er hin­schau­en. Zu­erst ein­mal auf der Sei­te des Er­wach­se­nen: Bin ich klar? Bin ich au­then­tisch? Habe ich kei­ne Kraft mehr, mit dem Kind in Be­zie­hung zu tre­ten? Wenn ich die­se Kraft nicht mehr habe, fängt das Kind an, die Be­zie­hung zu su­chen und for­dert mit sei­nem Ver­hal­ten: "Wer­de end­lich sicht­bar!" Dar­aus er­gibt sich ein Teu­fels­kreis, denn die Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser For­de­rung raubt noch ein­mal Kraft. Manch­mal wei­sen uns Kin­der mit ih­rem Ver­hal­ten auch dar­auf hin, dass in der Fa­mi­lie et­was nicht stimmt. Oft han­delt es sich da­bei ge­nau um die Din­ge, die wir ger­ne un­ter den Tep­pich keh­ren. Auf der Sei­te des Kin­des kann eine sol­che län­ger dau­ern­de Pha­se auch ein Alarm­zei­chen sein. Es kann heis­sen: "Es geht mir nicht gut. Ich bin ge­stresst und müde. Schau hin und hilf mir!" 

swiss­mom: Es gibt ja nicht nur El­tern, die ih­ren Kin­dern kei­ne Gren­zen set­zen, son­dern auch sol­che, die den Rah­men zu eng ste­cken. Was sind die Fol­gen da­von? 

Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop: Wenn ich kei­ne Gren­zen set­ze, las­se ich das Kind al­lei­ne. Es be­kommt kei­ne An­wei­sun­gen, wie es sich in der Welt zu­recht­fin­den kann. Zu vie­le Gren­zen hin­ge­gen en­gen ein. Sie sind wie ein Mäu­er­chen um das Kind her­um, kaum be­wegt es sich, stösst es sich dran. Wenn ich zu vie­le Gren­zen set­ze, muss ich die­se auch im­mer durch­set­zen. Es kommt zu Dro­hun­gen und Be­stra­fung. Vie­le Kin­der re­agie­ren auf die­se Art der Er­zie­hung wie ein ein­ge­sperr­tes Tier. Sie wer­den ag­gres­siv oder zie­hen sich zu­rück. 

swiss­mom: Kön­nen Sie an ei­nem kon­kre­ten Bei­spiel er­klä­ren, wie El­tern ih­rem neu­gie­ri­gen Klein­kind, das sich durch sei­nen For­scher­drang im­mer wie­der in Ge­fahr be­gibt, auf eine gute Art Gren­zen set­zen kön­nen?

Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop: Am ein­fachs­ten ist es si­cher, die Woh­nung kin­der­si­cher zu ma­chen. Aus der Hirn­for­schung weiss man, dass sich Kin­der un­ter zwei Jah­ren Ver­bo­te gar nicht län­ger als ein paar Mi­nu­ten mer­ken kön­nen. Vor gros­sen Ge­fah­ren soll­te man Kin­der un­be­dingt schüt­zen, also zum Bei­spiel vor der Stras­se, vor dem See oder dem heis­sen Koch­herd. Es ist aber auch so, dass Kin­der durch Er­for­schen ler­nen und die­ses Er­for­schen darf man nicht un­ter­bin­den, auch wenn es mit dem Ri­si­ko ver­bun­den ist, dass das Kind sich mal weh tut. Heu­te darf nichts mehr weh tun, wir Er­wach­se­ne hal­ten schmerz­li­che Si­tua­tio­nen, die das Kind er­lebt, nicht mehr aus, was wich­ti­ge Ent­wick­lungs­schrit­te ver­hin­dert. Ich fin­de das Mot­to "sel­ber, aber nicht al­lei­ne" sehr wich­tig. Wenn ich das Kind die ge­fähr­li­che Trep­pe her­un­ter­tra­gen will und es nicht ge­tra­gen wer­den will, dann bie­te ich ihm die Hand an, um es zu be­glei­ten. Je mehr ich et­was ver­bie­te, umso span­nen­der wird es. Bes­ser ist es, Al­ter­na­ti­ven an­zu­bie­ten, oder dem Kind mit­tels freund­li­cher An­lei­tung zu zei­gen, wie et­was geht. In der Kü­che zum Bei­spiel kön­nen Kin­der schon früh mit­hel­fen und wich­ti­ge Er­fah­run­gen sam­meln.  

swiss­mom: Was soll man tun, wenn ein Kind das Nein nicht ak­zep­tiert und statt­des­sen zu dis­ku­tie­ren an­fängt? 

Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop: Wenn das Kind zu dis­ku­tie­ren an­fängt, dann weiss ich, dass ich ein ge­sun­des Kind habe. In un­se­rer Welt brau­chen wir die Fä­hig­keit, uns für un­se­re Wün­sche und Be­dürf­nis­se ein­zu­set­zen. Wenn ein Ju­gend­li­cher, der eine Be­wer­bung ge­schrie­ben hat, eine Ab­sa­ge be­kommt, dann wol­len wir, dass er nicht gleich auf­gibt, son­dern wei­ter nach ei­ner Lehr­stel­le sucht. Wich­tig fin­de ich, dass ich mich fra­ge, ob es ei­nen Grund gibt, wes­halb das Kind mein Nein nicht ak­zep­tie­ren will und möch­te, dass ich noch ein­mal dar­über nach­den­ke. Es gibt aber auch Si­tua­tio­nen, in de­nen das Nein nicht ver­han­del­bar ist. Dann muss ich da­mit le­ben, dass ich in den nächs­ten Mi­nu­ten die "doofs­te Mut­ter der Welt" bin, aber das geht ja zum Glück im­mer wie­der vor­bei. 

swiss­mom: Nicht sel­ten mi­schen sich aus­ge­rech­net dann, wenn man sich als El­tern oh­ne­hin in ei­ner her­aus­for­dern­den Si­tua­ti­on mit dem Kind be­fin­det, wohl­mei­nen­de Er­wach­se­ne ein. Ha­ben Sie ei­nen Tipp, wie man sich als Mut­ter oder Va­ter in ei­nem sol­chen Mo­ment ver­hal­ten soll? 

Bar­ba­ra Frisch­knecht-Schoop: Ei­gent­lich hat nie­mand das Recht, sich ein­zu­mi­schen, denn die an­de­ren wis­sen ja nicht, was da ge­ra­de läuft zwi­schen den El­tern und dem Kind. Vie­le Leu­te, die an­de­re kri­ti­sie­ren, hät­ten sehr viel vor der ei­ge­nen Türe zu keh­ren. Wenn man es schafft, ist es am bes­ten, gar nicht zu re­agie­ren. Kopf hoch, Brust raus und si­gna­li­sie­ren: "Ich ste­he über die­ser Sa­che." Schlag­fer­tig­keit hilft eben­falls, viel­leicht auch mit ei­nem Satz, den man sich für sol­che Si­tua­tio­nen zu­recht­ge­legt hat. Eine Mög­lich­keit ist auch, die Kri­ti­ker zu ver­wir­ren, in­dem man et­was sagt, was nicht im Zu­sam­men­hang mit der Sa­che steht. "Es macht mich auch glück­lich, dass der Broc­co­li heu­te re­du­ziert ist", zum Bei­spiel.  

Letzte Aktualisierung: 03.02.2020, TV

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