Wie Kin­der stark und selb­stän­dig wer­den

In­ter­view mit Rita Mess­mer

Kind mit frischen Rüebli
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Im In­ter­view


Rita Mess­mer be­geg­net in ih­rer The­ra­pie­pra­xis vie­len El­tern, die in der Er­zie­hung ih­rer Kin­der an ihre Gren­zen stos­sen. In ih­rem Buch "Der klei­ne Homo sa­pi­ens kan­n's!" zeigt sie auf, wie ein bes­se­res Ver­ständ­nis von bio­lo­gi­schen Zu­sam­men­hän­gen zu ver­ste­hen hilft, was Kin­der brau­chen, wie und war­um Kin­der ge­hor­chen und was dar­an falsch ist, wenn El­tern mei­nen, es ih­ren Kin­dern be­son­ders gut ma­chen zu müs­sen. Kin­der wol­len El­tern, die sie ins wirk­li­che Le­ben ein­füh­ren und sie wol­len nicht nur "Schog­gi­pud­ding" es­sen. 

swiss­mom: "Back to the roots" ist das ers­te Ka­pi­tel Ih­res Bu­ches über­schrie­ben. Zu wel­chen Wur­zeln sol­len wir zu­rück­keh­ren? 

Rita Mess­mer: Zu den evo­lu­ti­ons­bio­lo­gi­schen. Wenn ich von Bio­lo­gie spre­che, habe ich eine kla­re Vor­stel­lung da­von. Die Bio­lo­gie be­wegt sich im­mer in ei­nem har­mo­ni­schen Gleich­ge­wicht mit al­len "Mit­spie­lern": Le­ben­de Sys­te­me or­ga­ni­sie­ren die Be­zie­hung ih­rer Tei­le so, dass die Struk­tur auf­recht er­hal­ten wird, bei mi­ni­ma­lem En­er­gie­auf­wand. Des­halb ist für mich klar, dass die Bio­lo­gie vor­ge­se­hen hat, dass Er­zie­hung (das Auf­brin­gen der Spröss­lin­ge) ein­fach "pas­siert" - also bio­lo­gisch kei­ne un­nö­ti­ge En­er­gie da­für ver­braucht wird. Die En­er­gie wird für die Si­che­rung des Le­bens wie Nah­rungs­be­schaf­fung, Un­ter­kunft (Nest­bau usw.) und die Fort­pflan­zung ge­braucht. Aber Er­zie­hung, das heisst, dass sich der Nach­wuchs ins "Sys­tem" ein­fügt, das pas­siert fast ohne Auf­wand. Was wir mitt­ler­wei­le an En­er­gie da­für auf­wen­den, hat folg­lich nichts mehr mit Bio­lo­gie zu tun. Wir müs­sen uns also rück­be­sin­nen, wie das bio­lo­gisch - also prak­tisch "ef­fort­less" - pas­siert. So­zia­les Ver­hal­ten ist nicht an­ge­bo­ren, son­dern muss ge­lernt, re­spek­ti­ve ver­mit­telt wer­den. Und das muss von den El­tern und nicht vom Kind her­kom­men. 

swiss­mom: War­um ist es wich­tig, dass die Be­dürf­nis­se ei­nes Säug­lings in den ers­ten drei Mo­na­ten voll­um­fäng­lich ge­stillt wer­den? 

Rita Mess­mer: Der Säug­ling hat noch kein Be­wusst­sein. Er weiss auch nicht, dass die Mut­ter und er zwei ver­schie­de­ne Per­so­nen sind. Er hat aber Be­dürf­nis­se, die ihm sein Kör­per mit­teilt, die dem Über­le­ben die­nen. Die­se bringt er zum Aus­druck - die muss er evo­lu­ti­ons­bio­lo­gisch zum Aus­druck brin­gen - er wählt nicht, son­dern re­agiert in­stink­tiv. In der Bio­lo­gie wer­den die­se Be­dürf­nis­se der her­an­wach­sen­den Jun­gen in ei­nem wech­sel­sei­tig über­ein­stim­men­den Ver­hal­ten voll­um­fäng­lich ge­deckt. Das ist der bio­lo­gi­sche Weg, wo der Säug­ling sich an sei­ne Mut­ter / Va­ter bin­det - sei­ne wich­tigs­ten Be­zugs­per­so­nen, die für sein Über­le­ben sor­gen und ver­ant­wort­lich sind. Nur so kann er sich jetzt stress­frei sei­ner Ent­wick­lung zu­wen­den. 

Zur Per­son

Rita Messmer

Rita Messmer ist Autorin, Pädagogin, Craniosacral-Therapeutin und Mutter von drei Kindern. Ihr Buch "Der kleine Homo sapiens kann's!" handelt davon, wie die natürliche Kompetenz und Selbständigkeit der Kinder gestärkt werden. Weitere Infos unter www.rita-messmer.ch

swiss­mom: Wie sieht es aus, wenn das Baby grös­ser ist? Soll­ten El­tern dann um­ge­hend auf Wei­nen und Un­muts­äus­se­run­gen re­agie­ren?

Rita Mess­mer: Wei­nen ist pri­mär bio­lo­gisch ge­se­hen ein sehr ef­fi­zi­en­tes Si­gnal, um auf sich auf­merk­sam zu ma­chen. Wei­nen und La­chen ha­ben aber auch bio­lo­gi­sche Funk­tio­nen: Sie ge­hö­ren zu un­se­rem re­gu­la­ti­ven Sys­tem, das da­für ver­ant­wort­lich ist, für un­se­re Ge­füh­le ein Gleich­ge­wicht (Ho­möo­sta­se) her­zu­stel­len. Wenn das Baby weint, um zu ent­la­den, baut es da­mit Stress ab. Dar­auf muss ich als El­tern an­ders re­agie­ren, als wenn das Wei­nen Hun­ger si­gna­li­siert. Vie­le Ba­bys wei­nen sich in den Schlaf. Dies ne­ga­tiv zu wer­ten, wäre folg­lich völ­lig falsch - wir hin­dern das Baby dar­an, sein Gleich­ge­wicht zu fin­den. Wenn bio­lo­gisch al­les rich­tig ver­läuft, ist das Baby nach drei Mo­na­ten si­cher ge­bun­den. Jetzt muss es all­mäh­lich er­fah­ren, dass Mut­ter und es zwei ge­trenn­te Per­so­nen sind. Das heisst, die Mut­ter hat Be­dürf­nis­se, die sich von den je­nen des Ba­bys un­ter­schei­den. All­mäh­lich ver­schie­ben sich die Be­dürf­nis­se des Ba­bys zu je­nen der Mut­ter. Ein Lern­pro­zess, der für das so­zia­le Ner­ven­sys­tem ex­trem wich­tig ist, denn das Baby lernt sich jetzt den Be­dürf­nis­sen der Mut­ter, der Ge­sell­schaft an­zu­pas­sen. Das heisst, es wer­den ihm Frus­tra­tio­nen zu­ge­mu­tet und wir kön­nen si­cher sein, das Baby nimmt da­mit kei­nen Scha­den, denn bio­lo­gisch ge­se­hen ist das für sei­ne ge­sun­de Ent­wick­lung ex­trem wich­tig. Denn nur so ent­wi­ckelt sich eine so­zia­le Ge­sell­schaft, von der je­des In­di­vi­du­um letzt­lich Vor­tei­le hat. 

swiss­mom: War­um soll­ten Kin­der auch frus­trie­ren­de Er­fah­run­gen ma­chen dür­fen? 

Rita Mess­mer: Weil das Le­ben sehr viel mehr Si­tua­tio­nen für mich be­reit hält, wo ich nicht der Schöns­te, der Bes­te, der Reichs­te bin. Je bes­ser ich da­mit zu­recht­kom­me, des­to bes­ser geht es mir. Die we­nigs­ten Men­schen sind er­folgs­ver­wöhnt. Frus­tra­ti­on ist eine Be­wer­tung, die die Er­wach­se­nen ma­chen. Das Kind kennt sie (noch) nicht. Ein Kind, das lau­fen lernt, fällt x-mal hin, stösst sich den Kopf, aber das wäre nie ein Grund, auf­zu­ge­ben. Es hat nur ein Ziel: Lau­fen zu kön­nen, das an­de­re ge­hört of­fen­sicht­lich ein­fach dazu. Aber die Freu­de, wenn es den ers­ten Schritt schafft - das ist pu­res Glück! An die­sem Bei­spiel soll­ten wir er­ken­nen, dass das, was wir Frus­tra­ti­on nen­nen, erst rich­ti­ges Glück mög­lich macht! Ein Ziel zu er­rei­chen, heisst durch­hal­ten, aus­hal­ten, kämp­fen. Wie­so wol­len die heu­ti­gen El­tern das den Kin­dern weg­neh­men? Es sind ge­nau die­se Er­fah­run­gen, die uns erst le­bens­fä­hig ma­chen! 

swiss­mom: Sie se­hen die Re­ni­tenz (Wi­der­spens­tig­keit) von Klein­kin­dern als ein Pro­blem der west­li­chen Welt. Was läuft Ih­rer Mei­nung nach schief bei uns? 

Rita Mess­mer: Vie­le El­tern wol­len es be­son­ders gut ma­chen und rich­ten sich nur noch nach ih­rem Baby. Die­ses Ver­hal­ten ist bio­lo­gisch ge­se­hen falsch. Was nützt dem Baby eine Mut­ter, die es den gan­zen Tag wiegt, herzt und Lied­chen vor­singt - da­für aber kei­ne Zeit fin­det, Es­sen zu be­schaf­fen? Das Kind wird ver­hun­gern - es kann sich sel­ber das Es­sen noch nicht be­sor­gen. Kein Le­be­we­sen ist so an­pas­sungs­fä­hig wie der Mensch. Er kann als Be­dui­ne in der Wüs­te le­ben, als Inu­it (Es­ki­mo) auf dem Eis, oder als Gross­stadt­mensch. Er kann Chi­ne­sisch oder Schwei­zer­deutsch spre­chen, je nach­dem, wo er auf­wächst. Was macht ihn zu die­sem Men­schen? Die bio­lo­gi­sche Fä­hig­keit, sich den je­wei­li­gen Um­stän­den an­zu­pas­sen. Aber es sind nicht die Um­stän­de, die sich an­pas­sen, son­dern der Mensch passt sich ih­nen an. West­li­che Men­schen ha­ben an­ge­fan­gen, sich ih­ren Kin­dern an­zu­pas­sen. Das löst in die­sen Kin­dern bio­lo­gisch ge­se­hen eine gros­se Ver­un­si­che­rung aus, die dann als Re­ni­tenz zum Aus­druck kommt. In je­der so­zia­len Ord­nung braucht es eine kla­re Hier­ar­chie, da­mit die­se funk­tio­niert. Wir ha­ben heu­te eine Hier­ar­chie­um­kehr und das ist der Tod je­der Ge­sell­schaft. 

swiss­mom: Wie sol­len El­tern auf un­er­wünsch­tes Ver­hal­ten ei­nes Klein­kin­des re­agie­ren? 

Rita Mess­mer: Si­cher­heit ist das Schlüs­sel­wort. Bio­lo­gisch ge­se­hen ist nie­mand so ver­letz­lich wie ein Baby oder ein Kind. Da­mit ist auch klar, was wir als El­tern ge­ben müs­sen: Si­cher­heit! Das Baby / Klein­kind will si­cher ge­führt wer­den - es will nicht ein­fach nur "Schog­gi­pud­ding". Vom "Schog­gi­pud­ding" wird es nur dick, aber nicht gross. Wenn es jetzt nach "Schog­gi­pud­ding" schreit, igno­rie­re ich die­ses Ge­schrei mit ei­ner gros­sen in­ne­ren Ge­las­sen­heit und set­ze ihm das Es­sen vor, das es für sei­ne ge­sun­de Ent­wick­lung braucht. Ich über­neh­me als El­tern die nö­ti­ge Ver­ant­wor­tung und füh­re. Das heisst, ich rede und er­klä­re nicht, son­dern ich hand­le. Wenn es Hun­ger hat, wird es es­sen. Wir müs­sen als El­tern nicht um das Ein­ver­ständ­nis un­se­rer Kin­der wer­ben, son­dern wir müs­sen un­se­ren Füh­rungs­an­spruch wahr­neh­men und klar füh­ren. Das wol­len un­se­re Kin­der. Ich soll­te mich folg­lich im­mer so ver­hal­ten, dass das Kind au­to­ma­tisch das Rich­ti­ge tut. Mein Ver­hal­ten ist aus­schlag­ge­bend und nicht mei­ne Ar­gu­men­te und Er­klä­run­gen. 

swiss­mom: Für­sor­ge, Lob und Auf­merk­sam­keit sind po­si­tiv be­setz­te Be­grif­fe. Sie schrei­ben, dass die­se auch scha­den kön­nen. Wann ist dies der Fall? 

Rita Mess­mer: Es ist ganz ähn­lich wie oben be­schrie­ben: Es geht im­mer um die ei­ge­ne in­ne­re Mo­ti­va­ti­on. Das ist der bes­te und gröss­te Trei­ber für je­den Men­schen. Wenn das Baby si­cher ge­bun­den ist, ist es sich der Für­sor­ge der El­tern si­cher, die El­tern müs­sen das nicht tag­täg­lich neu be­wei­sen - denn dann kann über­trie­be­ne Für­sor­ge ein­engend sein. Bei­spiel: El­tern, die ihre Kin­der tag­täg­lich in den Kin­der­gar­ten oder in die Schu­le be­glei­ten. Die­se ver­meint­li­che Für­sor­ge wird zur Kon­trol­le. Zu mei­ner Zeit hät­te sich je­des Kind ge­schämt, wäre es von den El­tern in den Kin­der­gar­ten oder in die Schu­le be­glei­tet wor­den. Lob soll­te spar­sam ein­ge­setzt wer­den. Lob wirkt in­fla­tio­när und schwächt sich ab: Wenn es weg­fällt, fühlt es sich an, als wür­de ich ge­rügt. Lob kann sich schnell auch ma­ni­pu­lie­rend an­füh­len. Und bei der Auf­merk­sam­keit ist es so, dass ich nur da Auf­merk­sam­keit ge­ben soll­te, wo sie ab­so­lut er­for­der­lich ist. Erst das bringt das Kind dazu, dass es mir sei­ne Auf­merk­sam­keit schenkt. Denn bio­lo­gisch soll­te das Kind, so­bald es mo­bil wird, die Auf­merk­sam­keit auf mich len­ken und auf mei­ne Si­gna­le ach­ten, denn die­se Si­gna­le sind es ja, die jetzt weg­wei­send und (über­le­bens)wich­tig sind - denn die El­tern füh­ren und wis­sen über das Le­ben Be­scheid. Und das möch­te das Kind ja jetzt von mir er­fah­ren, das ist der bio­lo­gi­sche Weg. Ich über­ge­be da­mit auch Ver­ant­wor­tung ab an das Kind, was sich für das Kind gut an­fühlt und stark macht. Durch mei­ne stän­di­ge Be­reit­schaft und Auf­merk­sam­keit hal­te ich das Kind ab, sich ent­wi­ckeln zu kön­nen und selb­stän­dig zu wer­den. Es wird le­bens­un­taug­lich. 

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