El­tern­not­ruf Schweiz

In­ter­view mit Ro­chel­le Al­le­bes

Familie im Streit
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swiss­mom: Wel­che pri­mä­ren Zie­le ver­folgt der El­tern­not­ruf Schweiz? Wer steckt da­hin­ter und wie wird die­se Hil­fe fi­nan­ziert?

Ro­chel­le Al­le­bes: Der ENR ist ein pri­va­ter, ge­mein­nüt­zi­ger, kon­fes­sio­nell und welt­an­schau­lich un­ab­hän­gi­ger Ver­ein, ge­grün­det 1983. Wir be­trach­ten Kin­der­er­zie­hung als eine sehr an­spruchs­vol­le Auf­ga­be und es ist un­ser Ziel, El­tern in aku­ten oder län­ger dau­ern­den, schwie­ri­gen Si­tua­tio­nen zu be­ra­ten und zu un­ter­stüt­zen. Es geht ne­ben Er­zie­hungs­be­ra­tung bei All­tags­the­men dar­um, es­ka­lie­ren­de Si­tua­tio­nen zu stop­pen und ih­nen vor­zu­beu­gen. Wir fi­nan­zie­ren uns aus drei Quel­len: Ei­ner­seits er­hal­ten wir Bei­trä­ge der Kan­to­ne Zü­rich, Aar­gau, Bern und Zug. An­de­rer­seits sind wir für rund 35% un­se­rer Auf­wen­dun­gen auf Spen­den an­ge­wie­sen und rund 10% de­cken wir mit Er­trä­gen aus der El­tern­be­ra­tung in der Be­ra­tungs­stel­le, aus Su­per­vi­sio­nen, Grup­pen- und Bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen für El­tern oder Fach­leu­te.

Zur Per­son

Rochelle Allebes hat eine Grundausbildung in klinischer Sozialarbeit und Fortbildungen in Supervision und Gruppentherapie in Amsterdam absolviert. In der Schweiz erweiterte sie ihre Ausbildung in systemischer Therapie und Beratung am Meilener Institut. Seit 1990 arbeitet sie beim Elternnotruf mit den Spezialthemen elterliche Präsenz, Patchworkfamilien, Pflegefamilien, Familien mit Jugendlichen, Bubenmütter, junge Mütter. Seit vier Jahren ist sie im Team des Meilener Instituts tätig, dort bietet sie Kurseinheiten und Supervision in der Aus- und Weiterbildung an. Rochelle Allebes wohnt in Zürich mit Mann und zwei Söhnen.

swiss­mom: Ist die Hil­fe ver­trau­lich, be­son­ders wenn El­tern in gros­sen Schwie­rig­kei­ten ste­cken? Wenn vor lau­ter Pro­ble­men Ge­walt an­ge­wen­det wur­de und das schlech­te Ge­wis­sen plagt, hel­fen Sie da auch, ohne die El­tern zu be­lan­gen?

Ro­chel­le Al­le­bes: Wir sind nicht ver­pflich­tet, El­tern an­zu­zei­gen und ma­chen das auch nicht. Die Be­ra­tun­gen sind, wenn das ge­wünscht wird, an­onym. El­tern müs­sen uns ih­ren Na­men nicht sa­gen oder schrei­ben. El­tern, die bei uns an­ru­fen, ha­ben ja schon ei­nen wich­ti­gen Schritt ge­macht und sind in der Re­gel mo­ti­viert, et­was zu än­dern. Un­ser Grund­satz „hel­fen an­statt stra­fen“ macht für die El­tern, die zu uns kom­men, ab­so­lut Sinn. El­tern, die Ge­walt an­ge­wen­det ha­ben, brau­chen Hil­fe, sie ma­chen dies in den meis­ten Fäl­len, weil sie sich über­for­dert füh­len, nicht weil sie ihr Kind ver­let­zen möch­ten. Sie füh­len sich als Ver­sa­ger, schä­men sich, sie ha­ben sich nicht vor­ge­stellt, dass es so weit kom­men wür­de und möch­ten sich an­ders ver­hal­ten.

swiss­mom: Wann und wie er­hal­ten El­tern Hil­fe? Er­hal­ten die El­tern Hil­fe nur te­le­fo­nisch (Tel. 0848 35 45 55, zum nor­ma­len Fest­netz­ta­rif) oder bie­ten Sie auch kon­kre­te Hil­fe vor Ort an? Und wenn ja, wel­che? Wel­che Hil­fe kön­ne Sie nicht an­bie­ten?

Ro­chel­le Al­le­bes: El­tern kön­nen uns das gan­ze Jahr 24 Stun­den an­ru­fen und dann ha­ben sie ei­nen di­rek­ten Kon­takt mit ei­ner Be­ra­te­rin oder ei­nem Be­ra­ter, der Zeit für sie hat. Wenn El­tern uns ein Mail schi­cken, wird das spä­tes­tens in­nert 2 Ar­beits­ta­gen be­ant­wor­tet. In Zü­rich füh­ren wir eine Be­ra­tungs­stel­le, wo wir El­tern und Fa­mi­li­en per­sön­lich be­ra­ten. Manch­mal braucht es nur ein bis drei Ge­sprä­che. Wenn nö­tig und er­wünscht, coa­chen wir El­tern auch über län­ge­re Zeit. Wir bie­ten auch im­mer wie­der Grup­pen­be­ra­tun­gen zu ver­schie­de­nen The­men an, z.B. für El­tern von Ju­gend­li­chen. Was wir nicht ma­chen: Be­ra­tun­gen und The­ra­pi­en mit Kin­dern und Ju­gend­li­chen. Wenn dies nö­tig ist, ge­ben wir den El­tern oder den Ju­gend­li­chen ge­eig­ne­te Adres­sen. Wir ge­hen in der Re­gel auch nicht zu den El­tern nach Hau­se. Wenn das nö­tig ist, kön­nen wir Adres­sen ver­mit­teln oder im Not­fall sel­ber Kon­takt her­stel­len. Meis­tens er­üb­rigt sich im Lauf ei­nes Te­le­fon­ge­sprächs die Not­wen­dig­keit, dass je­mand so­fort kom­men muss.

swiss­mom: Wie funk­tio­niert die­se wert­vol­le Hil­fe?

Ro­chel­le Al­le­bes: Alle un­se­re Mit­ar­bei­ten­den ha­ben eine Grund­aus­bil­dung im psy­cho-so­zia­len Be­reich (Psy­cho­lo­gie, So­zi­al­ar­beit, So­zi­al­päd­ago­gik), eine be­ra­te­risch-the­ra­peu­ti­sche Wei­ter­bil­dung für die Ar­beit mit Fa­mi­li­en und ha­ben sel­ber Kin­der oder viel Er­fah­rung mit Kin­dern. Wir ar­bei­ten mit den El­tern zu­sam­men, ver­su­chen, ihre Si­tua­ti­on gut zu ver­ste­hen, da­mit wir ge­mein­sam Ver­hal­tens­wei­sen er­ar­bei­ten kön­nen, die zu die­sen El­tern, ih­rer Fa­mi­li­en­kul­tur und zur Si­tua­ti­on pas­sen. Es gibt kei­ne Re­zep­te, es ist eine Art mass­ge­schnei­der­te Prä­zi­si­ons­ar­beit. El­tern sind oft sehr ver­un­si­chert, zwei­feln viel an sich und ih­rem Vor­ge­hen. Manch­mal brau­chen sie nur eine Rück­ver­si­che­rung, dass sie ei­gent­lich al­les „rich­tig“ ma­chen, dass die schwie­ri­gen Mo­men­te, die sie mit den Kin­dern er­le­ben, ein­fach dazu ge­hö­ren. Wich­tig ist, dass El­tern rea­li­sie­ren, dass sie in der Er­zie­hung, wenn auch meis­tens nicht so be­wusst, Zie­le ver­fol­gen. Sie ha­ben Bil­der von „gu­ten El­tern“ in sich, sie ha­ben Vor­bil­der. Die­se  Bil­der sind oft bei bei­den El­tern ver­schie­den. Es ist sehr hilf­reich, sich mit die­sen The­men mal aus­ein­an­der zu set­zen, zu rea­li­sie­ren, wie­so man sich über be­stimm­te Sa­chen sehr auf­regt, über an­de­re viel we­ni­ger. Das heisst aber nicht, dass wir dies stan­dard­mäs­sig mit al­len El­tern ma­chen…wir ver­su­chen mit den El­tern Schrit­te in Rich­tung ei­ner „wirk­sa­men Er­zie­hung“ zu ma­chen.

swiss­mom: Bie­ten Sie auch Wei­ter­bil­dun­gen für El­tern an?

Ro­chel­le Al­le­bes: Wir bie­ten the­ma­ti­sche El­tern­aben­de an, z.B. zum The­ma der „El­ter­li­chen Prä­senz“. Zu­sam­men mit der Ju­gend­be­ra­tung bie­ten wir je­des Jahr eine Grup­pe für El­tern an mit dem Ti­tel „Mäch­ti­ge Ju­gend­li­che, ohn­mäch­ti­ge El­tern“. Für die­se Grup­pe muss man sich dann für ca. sie­ben Aben­de ver­pflich­ten.  Dort in­for­mie­ren wir die El­tern über The­men, die mit dem Zu­sam­men­le­ben mit Ju­gend­li­chen zu tun ha­ben, wir er­klä­ren z.B. was el­ter­li­che Prä­senz ist, wie sie ver­lo­ren ge­hen kann und wie­der her­ge­stellt wer­den kann. In die­sen Grup­pen kön­nen El­tern ler­nen, so ge­nannt zwei­glei­sig zu fah­ren: ihr Kind, sein Ver­hal­ten und die Si­tua­ti­on des Kin­des und der Fa­mi­lie ver­ste­hen, aber auch eine kla­re Hal­tung zu ent­wi­ckeln und zu sa­gen, was geht und was nicht. Auch wenn man sein Kind ver­steht, heisst das nicht, dass sein Ver­hal­ten ak­zep­ta­bel ist. Mass­nah­men, die durch­ge­setzt wer­den ohne zu ver­ste­hen, was los ist, grei­fen oft auch nicht. Um eine kla­re Hal­tung ent­wi­ckeln zu kön­nen, soll­te man wis­sen, was man vom Kind will und wie­so. Da­für braucht es eine Aus­ein­an­der­set­zung mit sich, mit den ei­ge­nen Wert­vor­stel­lun­gen und mit dem Kind. Un­se­re ak­tu­el­le An­ge­bo­te, Grup­pen und Ver­an­stal­tun­gen sind auf un­se­rer Home­page www.el­tern­not­ruf.ch zu fin­den.

swiss­mom: Auch All­tags­si­tua­tio­nen, die alle El­tern tref­fen kön­nen, füh­ren zu Stress und Über­for­de­rung. Fra­gen wie: Mein Kind schläft plötz­lich nicht mehr. Ich kann nicht mehr, kön­nen Sie hel­fen? Was ra­ten Sie da?

Ro­chel­le Al­le­bes: In sol­chen Si­tua­tio­nen geht es ei­ner­seits dar­um zu schau­en, was los ist: kön­nen wir her­aus­fin­den, wie­so das Kind jetzt nicht mehr schläft? Es kann sein, dass es Zäh­ne be­kommt und Schmer­zen hat, es kann auch sein, dass ein Er­eig­nis es be­las­tet, dass es an­ge­fan­gen hat zu träu­men und Traum und Rea­li­tät nicht aus­ein­an­der hal­ten kann. An­der­seits brau­chen El­tern in sol­chen Si­tua­tio­nen auch Ent­las­tung und wir schau­en mit Ih­nen, wie sie die­se or­ga­ni­sie­ren kön­nen, im pri­va­ten Rah­men oder mit der Un­ter­stüt­zung von In­sti­tu­tio­nen. 

swiss­mom: „Mein Kind nervt an­dau­ernd, wie kom­me ich aus der Brüll­fal­le? Ich füh­le mich in sol­chen Si­tua­tio­nen über­for­dert und wer­de dann oft laut, zu laut. Wie schaf­fe ich es, mich zu äus­sern ohne gleich aus­zu­ras­ten?“

Ro­chel­le Al­le­bes: Eine Te­le­fon­be­ra­tung könn­te un­ge­fähr so lau­fen: „Wie schafft Ihr Kind es, Sie so zu ner­ven? Mit wel­chem Ver­hal­ten?... Wel­chen Nerv trifft es bei Ih­nen?...  Ver­hal­ten ist auch eine Spra­che: was könn­te die Mit­tei­lung hin­ter dem Ver­hal­ten des Kin­des sein?....  Ich könn­te mir auch vor­stel­len, dass …Wie möch­ten Sie sich ger­ne in sol­chen Si­tua­tio­nen ver­hal­ten?... Was macht das für Sie so schwie­rig?... Viel­leicht müs­sen Sie nicht im­mer so­fort re­agie­ren, kön­nen Sie für sich eine kur­ze Aus­zeit neh­men, um zu über­le­gen, wie sie re­agie­ren möch­ten?“ Oft hilft es schon sehr, sich ge­mein­sam über das Kind Ge­dan­ken zu ma­chen, sich in sei­ne Si­tua­ti­on zu ver­set­zen und von dort an neue Über­le­gun­gen zu ma­chen. Da­für ha­ben die meis­ten El­tern im All­tag ein­fach kei­ne Ge­le­gen­heit.  Manch­mal ha­ben wir als El­tern auch un­rea­lis­ti­sche Er­war­tun­gen, z.B. dass Kin­der so­fort ihre Ak­ti­vi­tät un­ter­bre­chen soll­ten, um et­was zu er­le­di­gen. Es gibt im All­tag vie­le Mo­men­te, die ei­gent­lich In­ter­es­sens­kon­flik­te zwi­schen El­tern und Kin­dern sind. El­tern sind da ge­for­dert, ge­walt­freie Stra­te­gi­en zu ent­wi­ckeln. Eine Faust­re­gel ist, Kon­takt mit dem Kind her­zu­stel­len, um si­cher zu sein, dass es sie ge­hört hat. Kin­der (und auch Ju­gend­li­che) kön­nen sehr gut aus­blen­den, was ih­nen im Mo­ment nicht passt oder sie stört. Grund­sätz­lich ist es lei­der so, dass wir nur un­ser ei­ge­nes Ver­hal­ten än­dern kön­nen, nicht das von an­de­ren, und das ist auch so bei Kin­dern. Wir kön­nen ihr Ver­hal­ten be­ein­flus­sen, wenn sie ko­ope­ra­tiv sind. Es kann dann auch dar­um ge­hen, un­ser Kind in eine ko­ope­ra­ti­ve Stim­mung zu brin­gen, da­mit es sich so­zu­sa­gen er­zie­hen lässt. Wie ge­sagt: er­zie­hen ist sehr an­spruchs­voll!  Aber die meis­ten El­tern sind als El­tern meis­tens „gut ge­nug“ und mehr von sich zu ver­lan­gen, ist auch nicht rea­lis­tisch. Kin­der ha­ben, wie Er­wach­se­ne auch, schwie­ri­ge Pha­sen und Mo­men­te im Le­ben. Es kann auch sein, dass man ein­fach mehr Ge­las­sen­heit braucht, dass man eine Si­tua­ti­on mit dem Kind aus­hal­ten muss.

Kon­takt­adres­se: Tel. 0848 35 45 55 El­tern­not­ruf (nor­ma­ler Fest­netz­ta­rif), Be­ra­tungs­stel­le bei Er­zie­hungs­fra­gen, Über­for­de­rung und Kinds­miss­hand­lung, Wein­berg­stras­se 135, 8006 Zü­rich, 24h@­el­tern­not­ruf.chwww.el­tern­not­ruf.ch

Letzte Aktualisierung: 02.03.2020, swissmom-Redaktion

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