Reif für die Schu­le

Zur Schul­rei­fe ge­hört noch et­was mehr als die kör­per­li­chen, geis­ti­gen, so­zia­len und emo­tio­na­len Fä­hig­kei­ten.

Schüler rennen im Schulhaus
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Im Kin­der­gar­ten wird auf den Schul­ein­tritt hin­ge­ar­bei­tet. Wenn sich ab­zeich­net, dass ein Kind nicht in al­len Be­rei­chen die nö­ti­ge Rei­fe hat, wird die Kin­der­gar­ten­lehr­per­son mit den El­tern nach Lö­sun­gen su­chen.

Für die Er­zie­hungs­be­ra­te­rin und Fach­per­son für vor­schu­li­sche För­de­rung, Ma­de­lei­ne Humm, sind aber noch zwei wei­te­re As­pek­te wich­tig, wenn es um die Fra­ge geht, ob ein Kind schul­reif ist: Die Wahr­neh­mungs­rei­fe und die Ent­wick­lung der psy­chi­schen Funk­tio­nen. Dies sind zwei Be­rei­che, in de­nen El­tern sehr viel bei­tra­gen kön­nen und zwar nicht erst ab dem Kin­der­gar­ten­al­ter.

Wahr­neh­mungs­rei­fe – mit al­len Sin­nen das Le­ben er­fah­ren


Da­mit das Ge­hirn sich op­ti­mal ent­wi­ckeln kann, braucht es Wahr­neh­mungs­er­fah­run­gen über alle Sin­nes­or­ga­ne. Ob ein Kind kne­tet, mit nack­ten Füs­sen über das feuch­te Gras rennt oder Schub­la­den ein- und aus­räumt – all die­se Er­fah­run­gen hin­ter­las­sen Spu­ren im Ge­hirn und die­se Spu­ren bil­den ei­nen Teil der Ner­ven­ver­bin­dun­gen, die für das spä­te­re schu­li­sche Ler­nen enorm wich­tig sind. "Die Sin­ne kön­nen sich nur gut ent­wi­ckeln, wenn sie auch ge­braucht wer­den. Es ist ab­so­lut nicht das Glei­che, ob ein Kind eine ech­te Kat­ze strei­chelt, oder ein Büsi am Fern­se­hen sieht", er­klärt Ma­de­lei­ne Humm. Die­se durch Sin­nes­er­fah­run­gen ge­bil­de­ten Ner­ven­ver­bin­dun­gen ver­gleicht die Fach­frau mit dem So­ckel­ge­schoss ei­nes Hau­ses. "Selbst wenn Er­wach­se­ne et­was Neu­es ler­nen, spielt die­ser So­ckel wie­der eine Rol­le", sagt sie. Funk­tio­nie­ren die­se Ner­ven­ver­bin­dun­gen gut und wer­den sie trai­niert, fällt es dem Kind zum Bei­spiel leicht, ei­nen senk­rech­ten und drei waag­rech­te Stri­che als den Buch­sta­ben E zu er­ken­nen, denn das Ge­hirn gibt den vom Auge an­ge­lie­fer­ten In­for­ma­tio­nen ei­nen Sinn. Funk­tio­nie­ren die Ner­ven­ver­bin­dun­gen we­ni­ger gut, braucht das Kind viel mehr En­er­gie, um aus den an­ge­lie­fer­ten In­for­ma­tio­nen ei­nen Sinn zu er­schlies­sen, es ent­steht der Ein­druck, das Kind sei we­ni­ger in­tel­li­gent als an­de­re.

Wäh­rend im All­tag das Auge und das Ohr fast zu viel be­an­sprucht wer­den, kom­men an­de­re Sin­ne zu kurz. Des­halb soll­ten Kin­der mög­lichst viel raus aus der "Plüsch- und Tep­pich­at­mo­sphä­re", sagt Ma­de­lei­ne Humm, denn An­re­gun­gen im tak­ti­len Be­reich und viel Be­we­gung sei­en äus­serst wich­tig. So fällt es ei­nem Kind, das sich viel be­wegt, auch leich­ter, sich im Zah­len­raum zu be­we­gen, weil es ge­lernt hat, sich in ei­nem Raum zu ori­en­tie­ren. Wer er­fah­ren hat, dass ein klei­ner Be­cher über­fliesst, wenn man ihn mit Was­ser aus ei­nem gros­sen Be­cher fül­len will, kann sich ei­nen bes­se­ren Be­griff von Men­gen ma­chen. "Oft hat man den Ein­druck, man müs­se ein Kind in­tel­lek­tu­ell för­dern, doch es wäre viel wich­ti­ger, ihm Mög­lich­kei­ten zur Wahr­neh­mungs­ver­ar­bei­tung zu bie­ten", sagt die Er­zie­hungs­be­ra­te­rin. Was kom­pli­ziert klingt, ist ganz ein­fach: Mög­lichst viel se­hen, hö­ren, schme­cken, füh­len, rie­chen und be­we­gen, da­mit das Ge­hirn in der Lage ist, mit den in den im Schul­all­tag an­ge­lie­fer­ten In­for­ma­tio­nen et­was an­zu­fan­gen.

Das Kind ist kein Part­ner


Ma­de­lei­ne Humm, die auch als Fach­leh­re­rin für Tex­til­ar­beit und Wer­ken tä­tig ist, sieht noch ei­nen wei­te­ren Be­reich, in dem El­tern ihre Kin­der auf die Schu­le vor­be­rei­ten kön­nen: Die Rei­fe der psy­chi­schen Funk­tio­nen. "Bis zum Al­ter von drei Jah­ren ist ein Kind ganz auf sich be­zo­gen, was auch wich­tig ist, denn sonst wür­de es nicht über­le­ben", er­klärt die Fach­frau. "Dann aber soll­te das Kind mer­ken, dass es von an­de­ren Men­schen um­ge­ben ist und dass die­se Men­schen auch Be­dürf­nis­se ha­ben." Sei die Be­zie­hung zwi­schen El­tern und Kind zu part­ner­schaft­lich ge­prägt, ler­ne das Kind nicht, Gren­zen zu re­spek­tie­ren und blei­be in sei­ner Ich­be­zo­gen­heit ste­cken.

Kon­kret be­deu­tet dies zum Bei­spiel, dass man mit ei­nem Vor­schul­kind nicht aus­han­deln kann, dass man ihm beim Ein­kauf ei­nen Wunsch er­füllt, wenn es im Ge­gen­zug ver­spricht, beim nächs­ten Mal lieb zu sein. Was in ei­ner Part­ner­schaft funk­tio­nie­ren wür­de, über­for­dert das Kind, denn es kann die Zu­sam­men­hän­ge noch nicht er­ken­nen. "Als Er­wach­se­ne ha­ben wir fast ein schlech­tes Ge­wis­sen, wenn wir Kin­dern kla­re An­wei­sun­gen ge­ben, doch ein Kind muss ler­nen, von aus­sen ge­setz­te Re­geln zu ak­zep­tie­ren", sagt Ma­de­lei­ne Humm. Läuft jede klei­ne Auf­for­de­rung auf eine Dis­kus­si­on oder ein Aus­han­deln hin­aus, steu­ert das Kind die El­tern in die Rich­tung, in die es ge­hen möch­te. Noch pro­ble­ma­ti­scher wird es, wenn El­tern die Wil­lens­stär­ke ih­res Kin­des zu­sätz­lich un­ter­stüt­zen, weil sie den­ken, nur so kom­me es gut durchs Le­ben. "Kin­der sind von sich aus wil­lens­stark, aber es kommt der Mo­ment, wo ein Kind er­ken­nen muss, dass es auch ein 'Du' gibt. Es muss ler­nen, wann es an­ge­bracht ist, wil­lens­stark zu sein und wann nicht", sagt Ma­de­lei­ne Humm. 

Hat ein Kind bis zum Schul­ein­tritt lust­be­tont ge­lebt, kommt das böse Er­wa­chen in der Schu­le: Da ist plötz­lich ein Er­wach­se­ner, der ei­nen pau­sen­los sagt, was zu tun ist. Kin­der, die von ih­ren El­tern wie Part­ner be­han­delt wer­den, emp­fin­den dies als Frech­heit. Als Leh­re­rin macht Ma­de­lei­ne Humm oft die Er­fah­rung, dass es vier oder fünf Auf­for­de­run­gen braucht, bis ein Kind zum Bei­spiel ei­nen am Bo­den lie­gen­den Blei­stift auf­hebt. Jede kleins­te Hand­rei­chung muss aus­dis­ku­tiert wer­den, das päd­ago­gi­sche Kon­zept ge­rät aus dem Lot, denn die Schu­le geht da­von aus, dass das Kind von sei­nem Ent­wick­lungs­stand her in der Lage ist, sich von Er­wach­se­nen füh­ren zu las­sen, was aber oft nicht der Fall ist. 

El­tern, die ih­rem Kind ei­nen gu­ten Start in den Schul­all­tag wün­schen, tun also gut dar­an, ihm eine Viel­zahl an Sin­nes­er­fah­run­gen zu er­mög­li­chen und es zu leh­ren, Auf­trä­ge aus­zu­füh­ren, auch wenn es viel Ge­duld kos­tet, dran zu blei­ben, bis eine Sa­che er­le­digt ist.

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Letzte Aktualisierung: 11.07.2022, TV