Warum sollte man mit Medikamenten in der Schwangerschaft besonders vorsichtig sein?

Interview mit Dr. Jeannette Dommer Schwaller

Schwangere mit Medikamenten in der Hand
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swissmom: In welcher Schwangerschaftsphase muss man besonders vorsichtig mit Medikamenten sein?

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Grundsätzlich können Medikamente, aber auch Genussmittel wie Alkohol und Nikotin, in der ganzen Schwangerschaft schädliche Auswirkungen haben. Es gibt keine „sicheren“ Schwangerschaftswochen. Am problematischsten sind jedoch das erste Schwangerschaftsdrittel und die Wochen kurz vor der Geburt. Von der 5. bis zur 10. Schwangerschaftswoche entwickeln sich die einzelnen Körperteile und Organe. In dieser Phase, auch kritische oder sensible Phase genannt, sind die Auswirkungen von Medikamenten am schlimmsten. Im Falle des Contergans kam es zur unvollständigen Bildung von Armen und Beinen. Auch im letzten Schwangerschaftsdrittel, insbesondere kurz vor der Entbindung, sind die Risiken erhöht: Zum Beispiel können Schmerzmittel wie Aspirin, Ibuprofen oder Diclofenac die Wehen hemmen und die Geburt verlängern, die Blutungsneigung von Mutter und Kind erhöhen und beim Kind zu einem Herzfehler führen. Weniger gefährlich sind hingegen die Schwangerschaftswochen ganz zu Beginn und in der Mitte. In den allerersten zwei Wochen nach der Empfängnis, also noch vor der erwarteten Periode, gilt das „Alles-oder-nichts-Gesetz“: Das befruchtete Ei stirbt aufgrund einer schädigenden Arzneimittelwirkung entweder ab, oder die geschädigten Zellen werden ersetzt und das werdende Kind entwickelt sich normal weiter. Im zweiten Schwangerschaftsdrittel (13.-27. Schwangerschaftswoche) ist die Organbildung mehrheitlich abgeschlossen, und die Entbindung steht noch nicht unmittelbar bevor. Deshalb sind in dieser Phase am wenigsten Probleme zu erwarten, wobei unerwünschte Arzneimittelwirkungen in Form von verzögertem Wachstum, einer Funktionseinschränkung von Organen oder – im schlimmsten Fall – einem Abort nicht ausgeschlossen werden können.

Zur Person

Dr. Jeannette Dommer Schwaller ist Apothekerin und Chefredaktorin des Apotheken-Handbuches der Schweiz.

swissmom: Pharmafirmen raten oft aus Haftungsgründen von einer Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft ab. Wie sieht jedoch die Realität heute aus?

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Medikamente gehören bei werdenden Müttern zum Alltag. Bis zu 99% aller schwangeren Frauen erhalten von ihrer Ärztin/ihrem Arzt mindestens ein Medikament verschrieben. Gründe für die häufige Medikamenteneinnahme sind heute unter anderem das höhere Durchschnittsalter der Schwangeren und damit das vermehrte Auftreten von Krankheiten, aber auch die häufigere Selbstmedikation. 

swissmom: Wie viele und welche Medikamente nimmt eine Schwangere durchschnittlich ein?

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Schwangere nehmen durchschnittlich drei bis acht verschiedene Medikamente ein, wobei Eisenpräparate an der Spitze stehen, gefolgt von Magen-Darm-Mitteln, Medikamenten für die Haut und Schmerzmitteln. 

swissmom: Wie gross ist der Anteil ärztlich verschriebener Medikamente und wie viele Medikamente nimmt eine Schwangere von sich aus ein?

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Nur ein Drittel der eingenommenen Medikamente werden vom Arzt verschrieben, d.h. also, dass zwei Drittel der Medikamente von Schwangeren ohne ärztliche Verordnung eingenommen werden. Dies ist besonders problematisch, weil auch „banale“ Medikamente wie Aspirin zu gefährlichen Situationen für Mutter und Kind führen können. Ich empfehle deshalb jeder schwangeren Frau, Medikamente nur nach Rücksprache mit einer Fachperson (Apotheker/in, Arzt/Ärztin) einzunehmen. 

swissmom: Können Sie unseren Leserinnen angeben, wie viel Prozent der angeborenen Entwicklungsstörungen auf einen Medikamentenkonsum zurückzuführen sind?

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Seit der Contergan-Affäre haben die Fachleute viel dazu gelernt. Glücklicherweise werden heutzutage nur 3% der angeborenen Entwicklungsstörungen äusseren Einflüssen, d.h. Medikamenten und Genussmitteln (Alkohol, Tabak und anderen Drogen) zugeschrieben. Bei zwei Dritteln der Entwicklungsstörungen ist die Ursache unbekannt. Die restlichen Ursachen liegen in Erbkrankheiten, Chromosomenstörungen (z.B. Down-Syndrom), Krankheiten der Mutter etc. Leider kann aber auch in jeder „gesunden“ Schwangerschaft ein spontanes Risiko für Missbildungen (2 bis 5%, je nach Kriterien) nicht ausgeschlossen werden.

swissmom: Von welchen Medikamenten raten Sie bei Kinderwunsch oder ungenügender Verhütung dringend ab?

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Hier kann ich selbstverständlich keine vollständige Liste aufführen. Zu den gefährlichsten und bei jungen Frauen relativ oft verwendeten Medikamenten gehören die so genannten Retinoide, starke Aknemittel. Des weiteren müssen Geschlechtshormone, gewisse blutverdünnende Mittel (Cumarine) sowie Mittel gegen Krebs in der Schwangerschaft unbedingt vermieden werden. Auch bestimmte Antibiotika (Tetracycline, Chinolone) und blutdrucksenkende Mittel (so genannte ACE-Hemmer) müssen bei schwangeren Frauen durch andere, unbedenklichere Medikamente ersetzt werden. Vorsicht: Auch Alkohol gehört zu den Stoffen, die erwiesenermassen zu Missbildungen führen können, weshalb eine werdende Mutter darauf verzichten soll.

swissmom: Welchen Tipp können Sie einer Schwangeren geben, die an leichten Beschwerden leidet?

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Eine Schwangere sollte nie versuchen, sich selbst mit Mitteln aus ihrer Hausapotheke oder von ihrer Freundin zu pflegen, sondern immer in ihrer Stammapotheke nachfragen, welches Mittel für sie am besten geeignet ist. Die Apotheke gibt auch jederzeit unentgeltlich Tipps, wie man leichte Beschwerden ohne Medikamente in den Griff bekommen kann. Wer lieber im Internet surft, findet auch bei www.swissmom.ch via Suchfunktion mit dem entsprechenden Stichwort sehr gute Ratschläge.

swissmom: Es gibt aber auch Schwangere, die an einer schon vor der Schwangerschaft bestehenden Erkrankung leiden, wie z.B. Asthma, Epilepsie, Heuschnupfen u.a. Was raten Sie diesen Frauen? Hier gilt es ja auch die Gesundheit der Mutter zu schützen.

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Gegenwärtig wird die Schädlichkeit von Arzneimitteln in der Schwangerschaft wahrscheinlich eher überschätzt und der Nutzen einer Therapie unterschätzt. Gerade bei schwer wiegenden Erkrankungen wie Epilepsie überwiegt der Nutzen der Arzneimitteltherapie klar deren Risiken. Das heisst, dass ein epileptischer Anfall der Mutter viel schlimmere Auswirkungen haben kann als sorgfältig ausgewählte Medikamente gegen Epilepsie. Auch bei Asthma ist es wichtig, die Therapie in der Schwangerschaft weiter zu führen. Grundsätzlich rate ich jeder Frau, mit ihrer Ärztin/ihrem Arzt ihren Kinderwunsch zu besprechen, damit allenfalls schon vor der Schwangerschaft die Medikamente angepasst werden können. Spätestens sobald die Frau von ihrer Schwangerschaft weiss, sollte sie umgehend ihre Ärztin oder ihren Arzt informieren.

swissmom: Eine wichtige Medikamentensubstitution wird heute schon vor der Empfängnis von allen Fachleuten empfohlen. Welche ist dies? Wie und wie lange soll sie eingenommen werden?

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Heute ist wissenschaftlich erwiesen, dass durch zusätzlichen Folsäuregaben so genannte Neuralrohrdefekte (Spina bifida oder offener Rücken) wirksam vermieden werden können. Auch Frauen, die sich gesund ernähren, können den doppelt so hohen Bedarf in der Schwangerschaft nicht alleine über Nahrungsmittel decken. Deshalb sollten alle Frauen, die schwanger werden möchten oder könnten, ein bis drei Monate vor der geplanten Schwangerschaft oder spätestens nach Absetzen der Pille täglich 0,4 mg Folsäure einnehmen und dies bis zur 12. Schwangerschaftswoche fortsetzen. Gemäss neueren Studien soll Folsäure sogar noch wirksamer sein, wenn es in Form eines genügend hoch dosierten Multivitaminpräparates eingenommen wird. Zusätzlich soll die werdende Mutter auf eine folsäurereiche Ernährung achten: Frisches Gemüse, Früchte, Vollkornprodukte, evtl. mit Folsäure angereicherte Lebensmittel (z.B. Frühstücks-Cerealien und -getränke). Frauen mit erhöhtem Risiko (eigenes Kind oder Kind in naher Verwandtschaft mit Neuralrohrdefekt) brauchen eine höhere Folsäuredosis (4 bis 5 mg täglich). Frauen, die ohne Folsäure-Prophylaxe schwanger geworden sind und noch im ersten Monat schwanger sind, sollen sofort Folsäure einnehmen.

swissmom: Welche allgemeine Tipps können Sie Schwangeren geben, die nicht auf eine Medikamenteneinahme verzichten können?

Dr. Jeannette Dommer Schwaller: Panik ist fehl am Platz. Arzneimitteltherapien werden für Schwangere besonders sorgfältig festgelegt. Ganz wichtig ist, dass die werdende Mutter Medikamente nicht auf eigene Faust oder auf Anraten ihrer Freundin oder Mutter einnimmt, sondern immer den Rat einer anerkannten Fachperson (Apotheker/in oder Arzt/Ärztin) einholt. Die Fachperson wird Nutzen und Risiken einer Behandlung für Mutter und Kind sorgsam abwägen und gut bekannte, sichere Medikamente verordnen. Ganz allgemein werden in der Schwangerschaft Einzelpräparate gegenüber Kombinationen bevorzugt, möglichst tiefe Dosierungen gewählt und die Behandlungsdauer möglichst kurz gehalten. Der Grundsatz lautet: So wenig Medikamente wie möglich, aber so viel wie nötig. Das heisst freilich auch, dass die werdende Mutter eine ihr verordnete Therapie nicht ohne Rücksprache mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt abbricht. Ein besonderes Anliegen ist mir, dass eine Frau, die schwanger ist oder es werden möchte, dies in der Apotheke immer erwähnt, damit für sie die richtigen Medikamente ausgewählt werden können.

Letzte Aktualisierung: 22.08.2022, AS