Wochenbettdepression

Experteninterview mit Prof. Dr. Riechler-Rössler

Frau blickt nachdenklich
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swissmom: Baby-Blues oder Heultage – ein leichtes Stimmungstief scheint in den Tagen nach einer Geburt, vor allem bedingt durch die Hormonumstellung, recht häufig zu sein und gibt sich in den meisten Fällen auch wieder von selbst. Welche Symptome sind typisch?

Prof. Dr. Riecher-Rössler: Die jungen Mütter bemerken eine seltsame Niedergeschlagenheit, die in den Tagen nach der Entbindung einsetzt. Weitere Symptome sind Weinerlichkeit, jähe Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, übergrosse Besorgnis und Erschöpfung. Es besteht oft auch kein Drang, mit dem Baby zu schmusen und es zu versorgen. "Heultage" als Begriff finde ich übrigens zu abwertend, ich spreche deshalb lieber von einer Verstimmung oder eben vom Blues. Die Frauen befürchten, keine gute Mutter zu sein und verstehen selbst nicht, dass ihnen ständig zum Weinen ist, wo doch alle meinen, dass sie sich eigentlich übers Baby freuen und glücklich sein müssten. Dazu kommt die Angst vor der immensen Verantwortung, die jetzt nach der Geburt ganz akut Realität wird - es gibt jetzt keinen Weg mehr zurück. Die Angst vor der Zukunft, zum Beispiel, was die berufliche Entwicklung, die Partnerschaft betrifft, oder auch in materieller Hinsicht spielt oft ebenfalls eine Rolle.

Zur Person

Frau Prof. Dr. med. Anita Riecher-Rössler ist Leiterin der Psychiatrischen Universitäts-Poliklinik am Kantonsspital Basel.

swissmom: Wie kann man als Partner oder Freundin wirkungsvoll Hilfe leisten in dieser Zeit?

Prof. Dr. Riecher-Rössler: Diese leichte Verstimmung ist typischerweise ungefähr nach einer Woche überstanden. Wichtig ist, die Betroffene darüber aufzuklären, dass es sich hier um etwas ganz Normales handelt. Am besten sollte schon in den Geburtsvorbereitungskursen gesagt werden, dass ein Viertel bis die Hälfte aller Wöchnerinnen damit rechnen muss. Wenn wir diese Aufklärung unterlassen, entwickeln die Betroffenen oft unnötige Schuldgefühle, halten sich für eine "Rabenmutter", was natürlich gar nicht stimmt. Die junge Mutter sollte mit ihrem Partner, ihrer Freundin, ihren professionellen Betreuern über ihre Gefühle sprechen können und sie als etwas Normales akzeptieren lernen. Einfach Zuhören kann hier schon ungemein entlastend wirken. Ruhe, Erholung, gesunde Ernährung und leichte körperliche Übungen bauen ebenfalls Spannungen ab. Rooming-In hilft oft, über das Tief hinwegzukommen, wobei die Mutter von der Säuglingsbetreuung zeitweise aber auch ganz bewusst entlastet werden sollte. Für Männer ist es oft gar nicht so einfach, richtig auf ihre Partnerin zu reagieren und die Verstimmung mit verständnisvoller Zuwendung zu akzeptieren. Sie können diese Gefühle nicht nachvollziehen und fühlen sich verunsichert. Trotzdem ist es enorm wichtig, dass sie nicht ungeduldig oder nervös werden. Denn die Mutter hat meist nicht die Kraft, bei ihrem Mann die Zuwendung einzufordern, die sie braucht. Sie wird doch selbst meist völlig davon überrollt und kann kaum verstehen, warum sie sich so niedergeschlagen fühlt.

swissmom: Wann ist das alles nicht mehr „normal“?

Prof. Dr. Riecher-Rössler: Dauern die Verstimmungen mehr als eine Woche an und sind sie begleitet von weiteren Beschwerden, handelt es sich wahrscheinlich schon um eine Form einer Wochenbettdepression oder selten um die noch ernstere Wochenbettpsychose. Alarmzeichen sind anhaltende depressive Gedanken, Gereiztheit, Ängstlichkeit, chronische Erschöpfung und Energiemangel, Antriebs- und Teilnahmslosigkeit, mangelnder Appetit und Schlafstörungen. Dabei finden die Mütter abends nicht in den Schlaf, obwohl sie todmüde sind, erwachen nachts spontan, auch wenn das Baby nicht weint oder der Vater die nächtliche Betreuung übernimmt, oder erwachen sehr früh, schon morgens um drei, vier Uhr, ohne wieder in den Schlaf finden zu können. Auch anhaltende Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, übermässige Sorge um den Säugling oder die Zukunft sind relativ typisch. Die betroffenen Mütter kommen mit den einfachsten Dingen des täglichen Lebens nicht mehr zurecht, alles wächst über den Kopf. Eine solche Depression kann auch erst mehrere Wochen nach der Geburt auftreten, in manchen Fällen sogar erst Monate später. Eine seltene und besonders schwere Form der psychischen Erkrankung entwickelt sich meist schon in den ersten vier bis zwölf Wochen nach der Geburt: die Puerperalpsychose oder Wochenbett-Psychose. Sie ist gekennzeichnet durch schwerste Aengste, Wahnvorstellungen und oft auch Halluzinationen und muss meist stationär mit einer intensiven Therapie behandelt werden.

swissmom: Welche Frauen haben ein besonders hohes Risiko für eine Wochenbett-Depression?

Prof. Dr. Riecher-Rössler: Frauen, die in der Vergangenheit an einer Depression gelitten haben, entwickeln besonders häufig eine Wochenbettdepression. Dasselbe gilt übrigens für Psychosen. Wenn also eine gewisse Veranlagung da ist, kommt es durch eine so enorme Belastung wie eine Geburt leicht zu einer psychischen Störung. Auslöser können hier sowohl die hormonelle Umstellungen bei der Geburt sein als auch die Tatsache, dass das Mutterwerden emotional sehr aufwühlend sein kann. Und wir wissen, dass auch "Aufgewühltwerden in positivem Sinn" ein Lebensereignis sein kann, das psychische Erkrankungen auslösen kann. Ganz wichtig sind auch die psychosozialen Veränderungen, die das Mutterwerden nach sich zieht - allen voran die vielen Rollenveränderungen, die Frauen erleben, wenn sie Mutter werden: beruflich, in der Partnerschaft etc. Oft kommt es hier zu grossen Konflikten und auch faktischen Ueberlastungen, da Frauen heute viel mehr Rollen gleichzeitig genügen müssen als früher. So wird von ihnen erwartet, dass sie gleichzeitig mit der Rolle als Mutter nicht nur die als Hausfrau, sondern auch die als Berufsfrau weiter erfüllen, und die Frauen erwarten das auch von sich selbst - mit Recht. Nur bekommen sie hierbei oft wenig Unterstützung vom Partner, von der Gesellschaft und auch weniger Unterstützung als früher aus der Kleinfamilie, etwa von der "Oma". Auch wird der jungen Mutter unter anderem von den Medien vorgegaukelt, wie perfekt sie all ihre Rollen zu erfüllen habe. Hier kann es leicht zu Insuffizienzgefühlen und Resignation kommen.

swissmom: Muss nach der nächsten Geburt wieder mit einer Wochenbettdepression gerechnet werden?

Prof. Dr. Riecher-Rössler: Ja, dann ist es deutlich wahrscheinlicher, dass es erneut zu einer Wochenbettdepression kommt. Aber auch, wenn die Frau zu anderen Zeiten - unabhängig vom Wochenbett - schon einmal an einer Depression gelitten hat, kommt es im ersten Jahr nach der Entbindung häufig zu einem Rückfall. Ähnlich ist es bei den Psychosen. Das Risiko ist hier in den ersten Wochen besonders hoch. Das heisst, Frauen, die schon einmal an einer psychischen Krankheit gelitten haben, sollten schon während der Schwangerschaft ihren Frauenarzt oder ihre Frauenärztin informieren. Der Besuch bei einem/einer Facharzt/Fachärztin für Psychiatrie schon vor der Geburt oder mindestens unmittelbar danach sehr hilfreich sein. Er/sie kann rechtzeitige Massnahmen zur Rückfallvorbeugung einleiten.

Letzte Aktualisierung: 13.05.2020, BH