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                              Schreisprechstunde für Babys und Kleinkinder

                              Interview mit Dr. med. René Glanzmann

                              Vater spricht auf weinendes Baby ein
                              ©
                              GettyImages

                              swissmom: Das Baby schreit viel, fühlt sich offensichtlich unwohl und die Eltern werden zusehends gestresst und wissen nicht mehr weiter. Wie kann die Schreisprechstunde diesen betroffenen Familien Hilfe anbieten?

                              Dr. med. René Glanzmann: Weil wir wissen, dass es ausserordentlich viele Gründe für das Schreien bei einem Baby gibt, haben wir unsere Schreisprechstunde interdisziplinär ausgestattet. Wir versuchen, in zweimal rund 1 ½ Stunden Konsultationszeit mittels Aufnahme der Patientengeschichte und Untersuchung des Kindes anlässlich der ersten Sitzung körperliche und oder seelische Ursachen für das Schreien auszuschliessen oder zu finden.
                              Liegen körperliche Probleme vor, so versuchen wir mit einer kausalen Therapie, diese zu lindern oder zu heilen, damit die Schreiattacken des Kindes verschwinden können. In vielen Fällen aber lassen sich keine offensichtlich körperlichen Ursachen finden. In diesen Fällen versuchen wir, in einer zweiten Sprechstunden-Sitzung, die auch wieder rund 1 – 1 ½ Stunden dauert, mittels Anamnese des familiären Umfelds und der familiären Interaktionen, möglichen seelischen Ursachen auf den Grund zu kommen. Im Allgemeinen helfen den gestressten Eltern bereits die Vermittlung eines ersten Sprechstundentermins und das Ausfüllen eines Schrei- oder Schlafprotokolls, welches wir zur Objektivierung der Beschwerden als sehr hilfreich beurteilen. So ist es nicht selten, dass schon beim ersten Termin die Eltern über eine leichte Besserung des Beschwerdebildes berichten.

                              Zur Person

                              Dr. med. René Glanzmann

                              Dr. med. René Glanzmann ist Kinderarzt FMH mit Schwerpunkt Neonatologie. Er ist seit 1994 als Oberarzt im UKBB (Universitäts -Kinderspital beider Basel) angestellt. Seit 1999 arbeitet er unter anderem auch als Oberarzt der Schreisprechstunde. Seine medizinischen Interessen sind die Ernährung und das Studium der Interaktionen zwischen Eltern und Kind.

                              swissmom: Welche Fachpersonen sind in Ihrem Team dabei?

                              Dr. med. René Glanzmann: Unser interdisziplinäres Team, das die Säuglingssprechstunde (oder Schreisprechstunde) betreut, besteht aus einem Kinderarzt, einem Vertreter des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (Kinderpsychiater) und einer erfahrenen Kinderkrankenschwester. Bei den ersten zwei Sitzungen sind jeweils alle Fachvertreter anwesend, bei weiterführenden Therapien wird dann entweder der Kinderarzt bei somatischen (=körperlichen) Problemen oder aber der Kinderpsychiater bei seelischen Problemen alleine aktiv. Gelegentlich wird es nötig, eine weitere pädiatrische Fachperson beizuziehen, am meisten benötigen wir die Kollegen der Entwicklungsneurologie oder den Facharzt für Magen-Darmerkrankungen. Bei Ess-Störungen, die auch im Rahmen dieser Säuglingssprechstunde betreut werden, werden oft Ernährungsberatung oder Logopädie zugezogen.

                              swissmom: Welche Symptome oder Verhaltensweisen zeigen sich bei den kleinen Patienten in der Schreisprechstunde?

                              Dr. med. René Glanzmann: In der Säuglingsprechstunde oder Schreisprechstunde betreuen wir Kinder von 0 – 4 Jahren, die an Schrei-, Schlaf- oder Essstörungen leiden. Das Gros unserer Patienten weist Schrei- oder Schlafstörungen oder die Kombination der beiden Störungen auf. Die Symptome unserer kleinen Patienten sind sehr unterschiedlich und werden je nach Eltern auch unterschiedlich wahrgenommen. Bei den Schreikindern liegt die Wahrnehmung natürlich auf dem mehr oder weniger exzessiven Schreien, das je nach Sensibilität der Eltern schon nach kurzen Schreiepisoden als sehr eingreifend erlebt wird. Bei den Schlafstörungen sind die Einschlafkämpfe einerseits und die Durchschlafstörungen mit häufigem nächtlichem Erwachen, begleitet von nächtlichem Schreien, die häufigsten Symptome. Bei den Essstörungen sind je nach Wahrnehmung der Eltern mehr oder weniger heftige Essverweigerungen oder Essstörungen beobachtbar.

                              swissmom: Gibt es Mechanismen für betroffene Eltern, mit diesem Stress umzugehen, damit sich die Situation beruhigt?

                              Dr. med. René Glanzmann: Allgemein lässt sich sagen, dass es keine Kochbuch-Regeln gibt, mit diesen Problemen einfach umgehen zu können. Für jede Familie muss der geeignete Weg gesucht werden, um dem Kind und allen Familienmitgliedern gerecht zu werden. Allgemeingültig ist indes, dass das Ernstnehmen der vorgetragenen Probleme auf der einen Seite und die Entlastung der gestressten Familie auf der anderen Seite hilfreich sind. Manchmal ist es sogar nötig, das schreiende oder schlafgestörte Kind für kurze Zeit aus dem Familienkontext herauszunehmen und über eine Entlastungs-Hospitalisation den Teufelskreis zu durchbrechen. In dieser Zeit können sich die Eltern ebenfalls erholen und neue Kräfte sammeln.

                              swissmom: Dass Babys am Anfang Ihres Lebens manchmal viel schreien, ist normal. Gibt es dennoch eine Faustregel, wann Eltern die Schreisprechstunde aufsuchen sollen?

                              Dr. med. René Glanzmann: Die übliche Definition des Schrei-Babys, nämlich Schreien an mindestens drei Tagen pro Woche drei Stunden lang über drei Monate andauernd, erweitern wir in dem Sinne, dass ein Baby dann als Schreibaby gilt, wenn es von den Eltern als solches empfunden wird. Wir raten den betroffenen Eltern immer, die Problematik zuerst mit ihrem Kinderarzt zu besprechen. Kommt dieser mit der Schrei- oder Schlafproblematik nicht weiter, so sind wir gerne bereit, unser interdisziplinäres Team zur Verfügung zu stellen.

                              swissmom: Spielen neben dem momentanen körperlichen Befinden eines Kleinkindes (Hunger/Appetit/Wohlbefinden) auch weitere Faktoren wie Stressfaktoren in der Schwangerschaft, Lebenssituation der Eltern, eigene Kindheitserinnerungen eine Rolle?

                              Dr. med. René Glanzmann: Das körperliche Befinden eines Kleinkindes spielt eine erhebliche Rolle bezüglich Schrei- und Schlafverhalten. Im Rahmen einer Dissertation von unserer Mitarbeiterin Frau Dr. S. Winteler über die Basler Schreisprechstunde haben wir indes feststellen können, dass sowohl Stressfaktoren in der Schwangerschaft, Befindlichkeiten der Eltern, insbesondere depressive Verstimmungen und psychische Erkrankungen, sowie eigene Kindheitserinnerungen einen grossen Einfluss auf das Verhalten des Kindes haben. Im Gegenzug dazu belastet exzessives Schreien die gesamte Familienstruktur und stellt die junge Familie auf eine enorme Belastungsprobe. Rasch entwickelt sich ein Teufelskreis mit gegenseitigen Vorwürfen, die kaum je der Behebung der Grundstörung beim Kind dienen. Insbesondere auch, weil Kleinkinder in dieser Altersstufe über feine Antennen verfügen, die atmosphärische Schwankungen in der Familie aufnehmen und darauf reagieren. Unsere ersten Resultate der Auswertung unserer Schreisprechstunde sind im Artikel von Frau Dr. Agnes von Wyl in der Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie veröffentlicht worden (von Wyl A., Watson M.,Glanzmann R., von Klitzing K. (2008): Basler interdisziplinäre Sprechstunde für Eltern von Säuglingen und Kleinkindern: Konzept und empirische Ergebnisse; Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 57: 216-236.).

                              swissmom: Sind körperliche Symptome wie Verdauungsstörungen, so genannte Drei-Monats-Koliken, häufig Ursachen des langdauernden Schreiens oder gibt es auch andere denkbare Gründe?

                              Dr. med. René Glanzmann: Bei Schreistörungen im frühen Säuglingsalter spielen die so genannten Dreimonatskoliken eine grosse Rolle. Diese sind höchstwahrscheinlich auf eine Regulationsstörung des Kindes zurückzuführen, das seine täglichen Eindrücke und Frustrationen mittels exzessivem Schreien verarbeiten muss. Wie aus vielen Studien bekannt ist, haben diese Kinder keine primären Probleme mit dem Verdauungstrakt, aber durch das exzessive Schreien und Luftschlucken findet man häufig ein massiv geblähtes und hartes Bäuchlein, was einen an Verdauungsstörungen denken lässt. Beim älteren Säugling und Kleinkind sind die Ursachen für das Schreien seltener in den Dreimonatskoliken zu finden, vielmehr sind länger andauernde Regulationsstörungen, Interaktionsprobleme mit den Eltern, Unter- oder Überstimulation des Kindes durch die Umwelt oder dann somatische Probleme wie gastroösophagealer Reflux, Neurodermitits und entwicklungsneurologische Defizite zu nennen. Diese verschiedenen Formen hat Frau Prof. Papousek 2004 schön beschrieben. (Papousek M. et al.: Regulationsstörung der frühen Kindheit: Klinische Evidenz für ein diagnostisches Konzept, Bern, Verlag Hans Huber, 2004: 177-110).

                              swissmom: Wie lange dauert es in der Regel, bis die Schreisprechstunde Abhilfe bringen kann?

                              Dr. med. René Glanzmann: Die Patienten, die in unserer Säuglingssprechstunde gesehen werden, erfahren im Schnitt drei Sitzungen. Bei einigen Patienten genügt eine Intervention, bei wenigen sind längerfristige Gesprächstherapien mit über acht Sitzungen nötig. Einzelne Patienten kommen mit unserem Konzept nicht klar und brechen die Therapie vorzeitig ab. Wie die Praxis-Pädiater uns immer mal wieder berichten, können OsteopathieCraniosacral-Therapie oder chiropraktische Therapien bei vielen Schreikindern im frühen Säuglingsalter helfen. Oftmals sehen wir die Patienten erst, wenn andere Heilversuche fehlgeschlagen sind. 

                              Letzte Aktualisierung: 06.11.2019, AS