Wenn die Glucke in mir erwacht...

Kinder mit Sonnenbrille
©
Shutterstock

Wir Mütter sind eigenartige Wesen. Auf der einen Seite können wir es kaum erwarten, dass unsere Kinder gross und selbständig werden, damit wir selber auch wieder ein kleines bisschen eigenständiger sein können. Auf der anderen Seite verwandeln wir uns in wahre Glucken, wenn unsere Kinder sich anschicken, genau das zu werden, wovon wir seit ihrer Geburt geträumt haben, nämlich selbständige kleine Menschen, die durchaus auch einmal ohne Mama und Papa zurechtkommen. Wenn die Glucke in mir erwacht und die Freiheitsliebende, die ebenfalls in mir drinnen haust, versucht, sie zur Raison zu bringen, dann fliegen ganz schön die Fetzen. Zum Beispiel, wenn der älteste Sohn ins Ferienlager verreist:

Glucke: "Ob der Junge auch ganz bestimmt nichts zu Hause vergessen hat? Und ob er so ganz alleine, ohne Mama und Papa zurechtkommen wird? Nun ja, sechs Tage sind schnell vorbei und dann darf er auch schon wieder nach Hause kommen...."

Die Freiheitsliebende unterbricht die Glucke: "Jetzt hab' dich doch nicht so! Der Junge kommt schon ein paar Tage ohne dich zurecht. Stell dir vor wie schön das wird: Einer weniger, der streitet, einer weniger, der den ganzen Tag für Radau sorgt. Und es dauert gar nicht mehr so lange, bis alle Kinder im Sommer ins Lager gehen können...."

Die Glucke, ziemlich schrill: "Alle Kinder? Bist du wahnsinnig geworden. Es ist schlimm genug, dass der Älteste jetzt schon ohne uns verreist! Du weisst ja, was in einem solchen Ferienlager alles passieren kann."

Die Freiheitsliebende, träumerisch: "Oh ja, ich erinnere mich.... Ganze Nächte durchquatschen, den Leitern Streiche spielen, vielleicht zum ersten Mal verliebt sein, ... nun ja, dafür ist der Junge noch etwas zu klein, aber eine Brieffreundschaft mit einem netten Mädchen, das gerne mit stillen, nachdenklichen Jungs befreundet ist, wäre traumhaft,.... ach, war das schön, als man noch so jung und unbeschwert war!"

Die Glucke, zurechtweisend: "Wenn ich an Ferienlager denke, kommen mir eher andere Dinge in den Sinn. Bienenstiche zum Beispiel, oder verstauchte Fussgelenke, Heimweh, Tränen, weil man ausgeschlossen wird, schlechtes Essen, oder, schlimmer noch, zu wenig essen.... Ach ja, ich muss unbedingt gleich heute Abend noch ein Fresspaket für den Jungen zurechtmachen, damit ich es morgen früh auf die Post bringen kann..."

Die Freiheitsliebende: "Du mit deiner Schwarzmalerei! Du hast doch den Menuplan gesehen. Er wird das Essen dort lieben. Und das Haus ist auch perfekt, so sauber, er wird nicht mal Asthma kriegen dort, weil es eines der einzigen Lagerhäuser ist, die nicht völlig verstaubt sind. Und dann liegt das Haus ja auch so schön abseits...."

Die Glucke: "Ha, von wegen abseits! Hast du die enge Strasse, die am Haus vorbeiführt, denn nicht gesehen? Ich habe mir sagen lassen, dass dort viele Lastwagen zum Fabrikgebäude fahren..."

Die Freiheitsliebende: "So, hast du dir sagen lassen? Aber hast du auch schon daran gedacht, dass der Junge sich bis anhin immer vorbildlich verhalten hat im Strassenverkehr? Und überhaupt: Er ist gross und vernünftig und weiss sehr genau, dass er nicht an  der Strasse spielen darf."

Die Glucke: "Der Junge meint, er sei gross und vernünftig. Aber er ist doch noch so klein. So alleine und verloren in einem Lager. Der arme Junge...."
 Die Glucke ist den Tränen nahe.

Die Freiheitsliebende: "Nun, so alleine ist er nun auch wieder nicht. Immerhin hat er seinen besten Freund dabei. Und die Schwester des besten Freundes ist auch dort. Und dann sonst noch ein paar andere Kinder, die er kennt. Und sein Gruppenleiter macht einen ganz guten Eindruck."

Die Glucke: "Ha, der Gruppenleiter! Hast du  dir den einmal näher angesehen? Der ist erst siebzehn, also selber noch fast ein Kind. Wie soll der für meinen armen kleinen Jungen sorgen können? Was wird bloss aus meinem Kind werden? Ich glaube, ich hole ihn gleich wieder nach Hause. Der arme, arme Junge...."
 Die Glucke bricht in Tränen aus.

Die Freiheitsliebende: "Du scheinst vergessen zu haben, dass der 'arme arme Junge' sich freiwillig ins Lager angemeldet hat, dass er sich monatelang auf diese Woche gefreut hat, dass er die Zeit ohne dich geniessen wird...."

Die Glucke, heftig schluchzend: "Das.... i-i-i-h-h-h-st ja.... das Schli-h-i-h-i-mmste an der Sa-ha-ha-che, dass er .... ga-ha-ha-nz gu-hu-hu-hu-t ohne mi-hi-hi-ch zurechtkommen.... wird...."

Während die Glucke heulend auf dem Sofa liegenbleibt, geht die Freiheitsliebende frohgemut in die Küche, holt sich etwas zu Trinken und murmelt vor sich hin: "Das ist ja das Schöne, dass der Junge ganz gut ohne mich zurechtkommen wird."

Und meistens, so kann ich rückblickend jeweils sagen, hat sie ganz Recht, die Freiheitsliebende.

Letzte Aktualisierung: 04.07.2016, TV