Na, dann entschleunigen wir mal

Paar mit Baby in der Hängematte im Garten

Entschleunigen sollen wir jetzt also, wir Mütter und Väter. Sollen nicht mehr wie frisch geschlachtete Hühner kopflos durch den Alltag rennen, sondern mit unseren Kindern dem Gras beim Wachsen zuschauen und dabei Socken aus der handgesponnenen Wolle unserer Alpakas stricken. Eine traumhafte Vorstellung für stressgeplagte Eltern, die vom andauernden Balanceakt zwischen Familie und Beruf schon ganz schwindlig sind und im Schlaf vor sich hin murmeln: "Tut mir schrecklich leid wegen der Verspätung. Mein Grosser ist krank und um fünf muss ich weg, die Krippe schliesst um halb sechs." Eine traumhafte Vorstellung auch für mich, weshalb ich mich seit mehreren Jahren darin übe, den Fuss vom Gaspedal zu nehmen. Meine Erfolgsbilanz ist, gelinde gesagt, durchzogen. 

Gut, das mit dem selbstgezogenen Gemüse - ein Herzstück der Entschleunigung - kriege ich schon ganz gut hin. Im Februar wird in Saatschalen auf dem Fensterbrett angesät, nach einiger Zeit wird in aller Seelenruhe mit viel Geduld pikiert, aus den Keimlingen werden Setzlinge und diese Setzlinge ziehen irgendwann, wenn es draussen warm genug ist, in die mit hauseigenem Wachtelmist gedüngten Beete um. Das alles wird begleitet von vielen klugen Bemerkungen und Lehrvorträgen, damit die Kinder auch wirklich lernen, woher das Gemüse kommt und warum Nacktschnecken nicht an den Salat gehören. Blöd einfach, wenn sich der Alltag andauernd in diese Beschaulichkeit einmischt. Ein Kind, das für ein paar Tage ins Spital muss, ein Teenager, der vergisst, den Garten zu wässern, wenn Mama mal keine Zeit hat, eine heftige Sommergrippe und schon ist die Ernte gefährdet. Ganz so idealistisch, dass wir den grossen Aufwand auch ohne jeglichen Ertrag auf uns nehmen, sind selbst die Gelassensten unter uns möchtegern-entschleunigten Eltern nicht, weshalb die meisten von uns ziemlich gestresst reagieren, wenn die Tomatenpflanze wegen falscher Giesstechnik von der Krautfäule heimgesucht wird. 

Ein anderes Herzstück der Entschleunigung ist der abgespeckte Terminkalender. Sie können mir glauben, in dieser Hinsicht habe ich wirklich grosse Fortschritte gemacht, mein Terminkalender ist inzwischen kaum mehr zu sehen, so schlank ist er. Weniger gestresst bin ich deswegen nicht. Im Gegenteil, denn alle die weissen Flecken, die ich mir geschaffen habe, füllen sich jetzt nicht etwa mit gemütlichen Teestunden und Brotbacken, sondern mit Schwiegermutter-Arztterminen, Vorladungen zum Elterngespräch, Einkaufen fürs Klassenlager und anderen Notwendigkeiten, die sich einen Dreck scheren um meinen Wunsch, bewusster und langsamer zu leben. Und weil wir Entschleunigten unsere Kinder gerne in der freien Natur herumtoben lassen, endet ein Nachmittag, der an den lauschigen Gestaden des Hallwilersees begonnen hat, schon mal auf der Notaufnahme mit einem vom Schwan attackierten Kind. Zuweilen scheint es wie verhext: Je mehr weisse Flecken der Terminkalender aufweist, umso heftiger verdrängen die Unwägbarkeiten des Familienlebens die herbeigesehnten Mussestunden. 

Na gut, wenn es so nicht hinhauen will, dann entschlacken wir eben das Freizeitprogramm unserer Kinder. Bloss, wo soll man da beginnen? Doch nicht etwa beim Instrumentalunterricht, wo Musizieren so unglaublich wohltuend und entspannend ist. Ein wenig Sport sollte auch noch drin liegen. Aber auch wenn man es bei diesen aus entschleunigter Sicht durchaus sinnvollen Freizeitbeschäftigungen belässt, wird's bereits ab zwei Kindern ziemlich herausfordernd. Das einzelne Kind mag zwar durchaus etwas weniger Stress haben, Mama und Papa wird aber angesichts der kumulierten Übungs- und Trainingsstunden, Turniere und Konzerte dennoch beinahe übel. 

Bliebe also noch die Möglichkeit, der Welt abzuschwören und sich irgendwo in einem entlegenen Winkel dieses Planeten der Zucht von Schwarznasenschafen zu widmen. Könnte ganz nett sein, denke ich. Zumindest wenn es mir gelänge, das Geschrei der Sprösslinge auszublenden, die auf der Stelle iPod und Barbie zurückhaben wollen und damit drohen, die selbst gezimmerte Blockhütte in Schutt und Asche zu legen. Zu dumm, dass wir nicht schon vor der Familiengründung in die Einöde gezogen sind, dann wüssten unsere Kinder jetzt gar nichts von all dem Kram. 

Was also tun? Weiterhin dem grossen Geld, dem heissen Schlitten und dem Traum vom perfekten, erfolgreichen Kind hinterher rennen, weil es ja doch nichts wird mit der Entschleunigung? Keineswegs. Aber vielleicht wäre es einfacher, ein glückliches Leben zu führen, wenn wir dieser einen Tatsache ins Auge sähen: Solange wir unsere Kinder beim Grosswerden begleiten, werden unsere Tage nie vollkommen ruhig und vorhersehbar sein, eine gehörige Portion Chaos - kräftig gewürzt mit zahlreichen unausweichlichen Verpflichtungen - gehört trotz Naturnähe und entspannter Lebenseinstellung einfach dazu. Die richtige Entschleunigung, die gibt's wohl erst mit der Pensionierung. Falls wir bis dahin nicht Grosseltern sind und unsere stressgeplagten Kinder entlasten müssen. 

Letzte Aktualisierung: 04.07.2016, TV